Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

547–550

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen. Ein Handbuch. Hrsg. unter Mitarbeit v. A. Lange.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XV, 843 S. m. 16 Abb. = De Gruyter Reference. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-11-033505-7.

Rezensent:

Michael Beyer

Konzeptionell orientiert an den von Albrecht Beutel begleiteten, einschlägigen Theologen-Handbüchern aus dem Hause Mohr Siebeck in Tübingen legt Günter Frank zusammen mit 40 Mitautoren zum ersten Mal ein umfassendes Melanchthon-Handbuch vor. Die Wahl des Untertitels könnte heute suggerieren, dass sich Melanchthon in einem eher modernen Sinn in einem Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen befunden habe, was gewiss unzutreffend sein dürfte. Dass der Brettener mehr als Luther von philosophischen Methoden hielt und Theologie sowie Weltwissen und natürliche Gotteserkenntnis sehr wohl vereinbaren konnte, ist wohlbekannt. Die Pläne für das Handbuch reichen zurück bis zu gemeinsamen Überlegungen zwischen Wittenberg, Leipzig, Mainz und Bretten im Umfeld des großen Jubiläums von 1997. Dankenswerterweise ist es Frank und seinen Mitautoren schließlich gelungen, das Projekt auszuführen. Neben der von Heinz Scheible inaugurier-ten Briefe-Edition (MBW) einschließlich ihres Internetzuganges (www.hadw-bw.de/forschungforschungsstellemelanchthon-briefwechsel-mbw/digitale-ressourcen), Scheibles neubearbeiteter Me-lanchthon-Biographie und der von Helmut Claus nach Jahrzehnten glücklich vollendeten Primärbibliographie Melanchthons hat die Forschung, die sich insbesondere seit 1997 in Europa und Amerika stark entwickelt, ein weiteres wichtiges Werkzeug an die Hand bekommen. Die folgenden Bemerkungen mindern seine Bedeutung für die Forschung keineswegs.
Vier große Themenkreise (A Orientierung, B Person, C Werk und D Wirkung und Rezeption) bilden den Rahmen. Der Orientierungsteil – er wird absichtlich ausführlicher besprochen als die inhaltlich orientierten – wird allein vom Herausgeber bestritten und beginnt mit dem Abschnitt Person und Wirken Melanchthons. Der Titel scheint unglücklich gewählt, denn angesprochen wird lediglich das Phänomen des mannigfachen, teilweise negativ getönten Perspektivenwechsels, dem das Melanchthonbild über Jahrhunderte ausgesetzt war. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, den kurzen Text als Vorspann zum instruktiven Abschnitt Melanchthonforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts zu ziehen. Der Abschnitt Hilfsmittel gibt Hinweise zur Melanchthonbibliographie, zu Forschungsreihen und Institutionen der Melanchthonforschung (Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Europäische Melanchthon-Akademie Bretten). Der Hinweis auf die Weiterführung der Bibliographie von Wilhelm Hammer 1519–1970 durch die Melanchthon-Biblio- graphie des Brettener Melanchthonhauses (www.melanchthon. com/Melanchthon-Akademie/Wissenschaft_und_Forschung/Me lanchthon_Bibliographie_1990-1995.php) muss er­gänzt werden durch den auf MelLIT der Melanchthon-Forschungsstelle in Heidelberg (http://biblio.ub.uni-heidel­berg.de/melanchthon/) sowie den auf die jährlich im Lutherjahrbuch erscheinende Lutherbibliographie, die seit vielen Jahren unter der Rubrik B5b die Melanchthonliteratur annähernd vollständig zu erfassen sucht. Der relativ kurze Abschnitt über die Melanchthonausgaben informiert über ältere und neuere Werke- bzw. Teilausgaben, so über die alten Opera omnia (seit 1541) und die neueren im Corpus Reformatorum (CR 9–28, auch auf DVD), über die originalsprachliche Melanchthon-Studienausgabe (MSA) von Robert Stupperich sowie über die bisher erschienenen vier Bände von Melanchthon deutsch (MelDt). Die ambitionierte zweisprachige italienische Teil-Ausgabe Melantone: Opere scelte, in der seit 2009 drei Werke (Physik, Confessio Augustana, Loci theologici, 1521) erschienen sind, wird nur kurz zusammen mit einigen anderen neueren Textausgaben unter »Einzelausgaben« miterwähnt. Leider kann hier noch kein Band der geplanten modernen Opera omnia-Edition bibliographisch angeführt werden. Ein Blick auf die Website www.melanchthonedi tion.com zeigt, welche Gliederung und welchen Umfang eine solche Edition haben soll. Der Editionsplan (samt Probestück und Richtlinien) führt übrigens den Umfang von Melanchthons Be­schäftigung mit so gut wie allen Wissensgebieten der frühneuzeitlichen protestantischen Universität vor Augen.
Damit sieht sich der Herausgeber in seinem Anliegen bestätigt, mit diesem Handbuch Melanchthon nicht nur im Zusammenhang mit und abhängig von Luther, sondern als bedeutenden eigenständigen Gelehrten und Kirchenpolitiker herausstellen zu können, der nicht nur als Praeceptor Germaniae, sondern als Praeceptor Europae bezeichnet werden sollte. Letzterem kann nur zugestimmt werden: Melanchthon dürfte der ehrenvolle Präzeptoren-Titel selbst noch vor Luther zustehen. Melanchthon, der Luther immer für einen Propheten hielt, hätte jedoch gewiss nicht auf Eigenständigkeit in den Grundlagen der gemeinsam vertretenen Lehre abgehoben und wäre ohne Luther nicht zu der beeindruckenden Gestalt geworden, als die ihn dieses Handbuch zeichnet. Die einschlägigen Beiträge zu diesem Band von Christine Mundhenk (Leben) und Martin Greschat (Melanchthons Verhältnis zu Luther) bestätigen diese Sicht.
Zur Orientierung gehören schließlich auch die sich sinnvollerweise am Ende des Werkes befindlichen Beigaben, beginnend mit dem Literaturverzeichnis. Ihm folgt ein Personenregister, das leider nur Personen (mit Lebensdaten!) erfasst, die bis 1800 geboren wurden. Ein Handbuch bündelt die Forschung; sein Register hat hier auch die Aufgabe, die Personen schnell ausfindig machen zu können, die die moderne Forschung repräsentieren. Dafür eröffnet das detailliert angelegte Sachregister einen schnellen und unmittelbaren Zugang zu einzelnen Themen und Fragestellungen. Abschließend folgt ein Autorenverzeichnis. Auf ein eigenes Quellenverzeichnis wurde verzichtet. Zwar werden die Hauptquellen beim Ab­schnitt zu den Melanchthonausgaben (s. o.) genannt und am Ende eines jeden Einzelartikels Quellen und Literatur gesondert aufgelistet, aber warum die hier verzeichneten Quellen nicht auch noch einmal gesondert als Verzeichnis neben der Literatur erscheinen, erschließt sich nicht. Auch scheint die unter den Quellen genannte Literatur nicht vollständig ins Literaturverzeichnis gelangt zu sein.
Die ganze inhaltliche Fülle des Handbuches kann hier nur an­deutungsweise benannt werden.
Der bereits erwähnten Abschnitt B Person vereint Artikel speziell zu Melanchthons Leben (s. o. Mundhenk), seinem Verhältnis zu Luther (s. o. Greschat) und zu weiteren Reformatoren (Andreas Mühling zu Calvin [in der Überschrift versehentlich doppelt ge­nannt], Zwingli, Bullinger, Bucer, Bugenhagen, Flacius) sowie zu Melanchthonbildnissen (Maria Lucia Weigel), zur Reichspolitik und den Religionsgesprächen (Andreas Gößner), zu den innerprotestantischen Streitigkeiten (Robert Kolb), zu Kirchenreform und Visitation (Natalie Krentz), zu Bildung, Schule und Universität (Markus Wriedt), zur lutherischen und reformierten Bekenntnisbildung (Hendrik Stössel, Matthias Freudenberg), zum Verhältnis Melanchthons zu Täufern und Spiritualisten (Eike Wolgast), den Türken (Michael Plathow) und dem römischen Katholizismus (Johanna Rahner).
Damit sind wichtige, mit Melanchthon als Person verbundene Themenkreise erfasst. Dass Melanchthons Verhältnis zum Judentum sowie seine Predigttätigkeit unbearbeitet geblieben sind, wird bereits im Vorwort mit fehlendem Forschungsvorlauf begründet. Fragen wirft die Anordnung der Artikel auf; zumindest die Beiträge über innerprotestantische Auseinandersetzungen und Bekenntnisbildung hätten einen angemessenen Ort ganz am Ende des gesamten Abschnittes B finden können.
Der Abschnitt C Werk beginnt mit einer Übersicht über die literarischen Gattungen, die der unermüdliche Gelehrte bedient hat: Übersetzung und Kommentare zur Bibel (Timothy Wengert). Die Artikel zum artistischen Trivium: Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Boris Djubo, William P. Weaver, Hans Peter Neumann) aus III Philosophie werden hier um deren methodische Bedeutung für die Theologie bereichert. Es gibt Überblicke zu Melanchthons katechetischen Ar­beiten (Georg Gottfried Gerner-Wolfhard), zur Literatur im Sinne von Dichtung und Erzählung (Thorsten Fuchs), zu den kirchenpolitischen und anderen Gutachten (Christopher Voigt-Goy) und der riesigen Korrespondenz (Christine Mundhenk).
Andreas Gößners Beitrag zu den Deklamationen, Reden und Postillen soll hier hervorgehoben werden, weil er ein besonderes, von Melanchthon in die protestantische Universität hinein entwickeltes Arbeitsfeld mit seiner Arbeitsweise verbindet. Gößner nimmt u. a. die immer wieder diskutierte Frage nach der alleinigen Autorschaft des Präzeptors angesichts der Unmengen seiner akademischen Äußerungen auf. Diese Reden und Deklamationen wurden ja häufig von Dritten gehalten, deren Anteil an der Entstehung zumindest unklar ist. Im Gespräch mit meiner Kollegin Christiane Domtera-Schleichert, deren gerade abgeschlossene Arbeit über die Wittenberger Scripta publice proposita Aufschluss über eine weitere Gattung in diesem Zusammenhang gibt, bin ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es sinnvoll wäre, Melanchthons Tätigkeit auf dem Feld des universitären Unterrichts analog zum bildkünstlerisch-ökonomischen Phänomen der »Cranachwerkstatt« unter dem Begriff »akademische Melanchthonwerkstatt« weiter zu erforschen.
C II Theologie vereint Beiträge zu Wissenschaftsverständnis und theologischem System (Günter Frank, Sven Grosse), zur Rechtfertigungslehre (Kolb), zur Schöpfungslehre (Christian Link), zur Christologie (Stössel), zur theologischen Anthropologie (Bo Kristian Holm) und – überaus differenziert im Blick auf das vermeintliche Unterscheidungsthema gegenüber Luther – zur Abendmahlstheologie (Johannes Ehmann), zur Ekklesiologie einschließlich Amts verständnis sowie Papst- und Traditionsproblematik (Johanna Rahner) und zur Prädestination, Eschatologie und Frömmigkeit (Martin H. Jung).
Melanchthons Leistungen innerhalb der Artisten- bzw. Philosophischen Fakultät machen mit Recht einen großen Teil des Handbuches (C III Philosophie) aus. Zwei der speziellen philosophischen Artikel hat der auf diesem Gebiet seit Langem ausgewiesene Herausgeber selbst übernommen (Phi­loso-phiebegriff, praktische Philosophie). Weitere Artikel widmen sich der Naturphilosophie unter Einschluss der Astrologie sowie der Anthropologie (Sandra Bihlmaier), der Jurisprudenz mit besonderer Würdigung der Aequitas-Lehre (Christoph Strohm), der Medizin (Jürgen Helm), dem bereits oben genannten Trivium, der Mathematik (Ulrich Reich), der Geschichte (Martin Schmidt) und der antiken Literatur (Thorsten Fuchs). Lediglich die Anordnung der Abschnitte zu Melanchthons Tätigkeitsfeldern in der Artisten- und der theologischen Fakultät lässt nachfragen. Die Nachordnung der Philosophie hinter die Theologie scheint im Zusammenhang des Handbuchs erklärungsbedürftig: Melanchthon selbst begann als Artist, sah seinen eigentlichen Platz innerhalb der philosophischen Fakultät und gehörte aufgrund seiner philologischen Expertise im Wittenberger humanistisch-reformatorischen Milieu schnell auch der theologischen an. Am Ende – ohne Luther – war es die Theologie, die ihm zum Schicksal wurde, nicht zuletzt deshalb, weil sein biblisch-systematischer Ansatz des theologischen Lehrens teilweise von der eigenen Schülerschaft nicht kongenial nachvollzogen bzw. überdehnt wurde. Die Entscheidung innerhalb der philosophischen Grundlagenwissenschaften, zunächst die wissenschaftstheore-tischen Grundlagen und Melanchthons Ausflüge in die beiden anderen Hohen Fakultäten zu behandeln, ist gut nachvollziehbar. Ebenso die weitere Anordnung, die der herausragenden Bedeutung des Triviums als praktische Kommunikationswissenschaft innerhalb der protestantisch geprägten Universität Rechnung trägt und die für die Reformation und ihre Theologie getroffenen Veränderungen im alten Quadrivium zeigt.
Der letzte große Abschnitt, D Wirkung und Rezeption zeichnet den Praecetor Germaniae et Europae als Akteur innerhalb seines weitgespannten Korrespondenznetzes und seiner kirchenpolitischen und schriftstellerischen Tätigkeit. Melanchthon war auch mehr als zwei Jahrhunderte hindurch der Lehrbuchautor par excellence.
Die einzelnen Artikel betreffen das Alte Reich (Walter Sparn), Skandinavien (Tarald Rasmussen) England (Charlotte Methuen), die Niederlande (Herman J. Selderhuis), Frankreich (Nicola Stricker), Spanien (Mariano Delgado), Italien (Lother Vogel), die Schweiz (Marin Maag), Ungarn und Südosteuropa (Andreas Müller) sowie Polen-Litauen (Kęstutis Daugirdas). Diese Einzelartikel sind in der Regel gut und spannend geschrieben und vermitteln ein eindrückliches Bild von Melanchthon in den einzelnen europäischen Kontexten. Günter Franks abschließender, in die ökumenische, will sagen: in die evangelisch-römisch-katholisch-ökumenische Gegenwart führender Beitrag entlehnt seinen Titel einem Zitat, das Melanchthon als größte ökumenische Gestalt der Reformationszeit (J. Larsen) apostrophierte. Auch wenn dieser Ehrentitel inhaltlich nicht zu füllen ist, zeigt der Verfasser, dass sich über Melanchthon, der im römisch-katholischen Bereich seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s als prominenter Bekenntnisschriften-Autor galt, ein Weg zum Gespräch mit Luther und seiner Theologie auftat, der immer noch begangen wird. Melanchthons differenzierende Unterschrift unter die Schmalkaldischen Artikel mit der Definition eines möglichen universalen Petrusamtes iure humano scheint dem Verfasser auch heute noch rezipierbar.
Dem Handbuch ist innerhalb der Melanchthonforschung ein gu­ter Weg zu wünschen. Seine Materialfülle ist immens. Es spiegelt die Melanchthonforschung der letzten 30 Jahre und wird auf jeden Fall die Forschung anregen und begleiten.