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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

532–534

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Burkett, Delbert

Titel/Untertitel:

The Case for Proto-Mark. A Study in the Synoptic Problem.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIV, 316 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 399. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-155516-9.

Rezensent:

Guido Baltes

Delbert Burkett, Seynaeve Professor of Biblical Studies an der Louisiana State University in Baton Rouge, legt mit diesem Werk eine Detailstudie zu einem spezifischen Teilaspekt des synoptischen Problems vor. Die Zielrichtung wird im ersten Kapitel deutlich eingegrenzt: Weder sollen Modelle einer Matthäus- oder Lukaspriorität (z. B. »Neo-Griesbach«) einbezogen noch soll die traditionelle Annahme von Q infrage gestellt werden (z. B. »Mark without Q«). Untersucht wird ausschließlich das Material der dreifachen Überlieferung (abzüglich möglicher Mk/Q-Überlappungen [131]), wobei geklärt werden soll, ob sich deren Herkunft am besten durch eine markinische, eine protomarkinische oder eine deuteromar-kinische Hypothese erklären lässt.
Die Untersuchung will dabei (noch?) keine spezifische protomarkinische Theorie vertreten, sondern sich auf den Nachweis be­schränken, dass der vorgestellte Be­fund am plausibelsten durch eine »irgendwie geartete« protomarkinische Hypothese erklärt werde [5].
Der Forschungsüberblick zeichnet nach, wie protomarkinische Hypothesen in der Frühzeit der synoptischen Forschung zunächst dominierten, dann aber spätestens seit Streeter (1924) durch die Annahme einer kanonischen Markuspriorität verdrängt werden, auch wenn diese dann doch bis heute häufig durch vormarkinische Stufen ergänzt wird. Hinzu treten zunehmend deuteromarkinische Ansätze. Unter die protomarkinischen Hypothesen subsummiert B. zudem auch »multi-layer« Theorien (Boismard 1972, Rolland 1975), wie er selbst sie auch in seinem Vorgängerwerk vertreten hatte (»Rethinking the Gospel Sources: From Proto-Mark to Mark«, 2004).
Wie der Titel nahelegt, präsentiert B. seine Beobachtungen und Argumente in Form eines klar strukturierten Beweis- und Ausschlussverfahrens. Jedes Kapitel dient dem Nachweis eines spezifischen Indexes für die Existenz protomarkinischer Quellen, wobei die Indizien kumulativ aufeinander aufbauen. Am Ende jedes Kapitels werden Ergebnisse in Form von sechs Hauptschlussfolgerungen zusammengefasst:
1. Die gängigen Argumente für eine Markuspriorität, wie sie seit Streeter diskutiert werden, schlössen zwar eine Matthäus- oder Lukaspriorität zu Recht aus, ließen jedoch Raum für proto- oder deuteromarkinische Erklärungen. 2. Das Hauptargument gegen eine Priorität des kanonischen Markus seien die »minor agreements«, ihr Gewicht sei jedoch bisher durch unzureichende Me­thodik (siehe unten) nicht deutlich genug ge­worden. 3. Eine neuartige Methode der statistischen Auswertung mache deutlich, dass das Phänomen der »minor agreements« eine proto- oder deuteromarkinische Hypothese deutlich wahrscheinlicher mache als eine reine Markuspriorität. 4. Die These, dass die »minor agreements« mehrheitlich eine sprachliche »Verbesserung« gegenüber dem ka­nonischen Markus darstellen, lasse sich nicht schlüssig erweisen. Hier interagiert B. ausführlich mit den beiden deutero-markinischen Ansätzen von Fuchs (1971 u. ö.) und Ennulat (1993). 5. »Primitivere« Sprache finde sich vielmehr im synoptischen Vergleich wechselweise bei allen drei Evangelisten. Dies gelte nicht nur, weil Urteile über »Primitivität« stets subjektiv seien, sondern selbst dann, wenn die von Vertretern einer Markuspriorität selbst vorgeschlagenen Kriterien zugrunde gelegt würden. Solche wechselnde »Primitivität« sperre sich sowohl gegen eine markinische als auch gegen eine deuteromarkinische Erklärung. 6. Typische sprachliche Merkmale der einzelnen Evangelisten, die jeweils in den Parallelen ihrer Seitenreferenten fehlen, obwohl sie von diesen an anderen Stellen verwendet werden, ließen sich am besten als redaktionelle Bearbeitungsschicht erklären. Die Tatsache, dass sich solche Eigenheiten bei allen drei Evangelisten in ähnlichem Umfang finden, sperre sich ebenfalls gegen eine deuteromarkinische oder markinische Priorität. B. schlussfolgert: Beobachtung 3, 5 und 6 sprechen gegen eine Priorität des kanonischen Markus, 5 und 6 zusätzlich gegen eine deuteromarkinische These. Die Existenz einer oder mehrerer protomarkinischer Quellen erweise sich daher als plausibelste Erklärung [128].
Wichtigste Grundlage für B.s Beweisführung sind zwei Materialsammlungen, die dem Buch als »Anhang« beigefügt sind, wobei der Anhang [131–289] umfangreicher ist als die Darstellung selbst [1–130]. Anhang A stellt die »minor agreements« in neu geordneter Weise zusammen: Während B. frühere Kriterien zur Identifikation solcher agreements (Neyrinck 1974, Ennulat 1994) im Grundsatz übernimmt [42], schlägt er zwei wichtige methodische Präzisierungen vor: zum einen die Gruppierung von agreements nach Perikopen, wodurch ihre relative Häufung in einzelnen Texten deutlicher erkennbar werde. Zum zweiten zählt B. für jede Perikope nicht nur agreements von Mt/Lk gegen Mk, sondern als Vergleichsgröße auch agreements von Mk/Lk gegen Mt sowie von Mk/Mt gegen Lk. In übersichtlicher synoptischer Tabellenanordnung werden 73 Perikopen dokumentiert und alle Übereinstimmungen und Differenzen jeweils statistisch ausgewertet. Ziel dieser neuartigen Zusammenstellung ist es, nicht nur die Anzahl von Mt/Lk-agreements gegenüber Markus zu zählen, sondern gleichzeitig auch zu fragen, ob diese signifikant niedriger ist als die Übereinstimmung mit den jeweils anderen Evangelisten. B.s These: Unter Annahme einer Markuspriorität müsste in allen Perikopen der dreifachen Tradition Matthäus »much more often« mit Markus übereinstimmen als mit Lukas, und Lukas müsste mit Markus »much more often« übereinstimmen als mit Matthäus [55]. Diese »prediction based on the hypothesis« wird jedoch durch das neue Datenmaterial eindrücklich widerlegt: Nur in 18 von 73 Perikopen trifft sie zu. In weiteren 21 Perikopen ist die Übereinstimmung von Mt mit Mk bzw. Lk mit Mk nur geringfügig, aber nicht »much more often« als die zwischen Mt und Lk. In 13 Perikopen dagegen ist die Übereinstimmung zwischen Mt und Lk höher (!) als ihre jeweilige Übereinstimmung mit Mk. Und in 18 weiteren Perikopen ist die Übereinstimmung zwischen Mt und Lk zumindest höher als die zwischen Mk und Lk. B.s These 3 (siehe oben) wird vor dem Hintergrund dieses Befundes schwerer von der Hand zu weisen sein als bisher. Anhang B, C und D stellen die sprachlichen Charakteristika der drei synoptischen Evangelien zusammen, die B.s Thesen 5 und 6 zugrunde liegen.
»The case for Proto-Mark« erinnert in Sprache und Argumentationsweise in der Tat an das Genre der Anwalts- und Detektivfilme. Mit großer Klarheit, und manchmal auch kühner Selbstsicherheit, präsentiert B. seine Thesen, Indizien und Beweisführungen. Argumente der Gegner werden aber fair aufgegriffen und auf ihre Plausibilität hinterfragt. Der oft statistische und mathematische Zu­gang [53–60 und 116–124] hilft zu einer Objektivierung, aber Sta-tistik ist natürlich in hohem Maße abhängig von den jeweils gewählten Kriterien und Messmethoden. Hier hilft es, dass B. meist keine eigenen Kriterien vorschlägt, sondern auf akzeptierte Standards früherer Untersuchungen zurückgreift. Kritiker werden sich daher eher mit den erzielten Ergebnissen als mit den gewählten Methoden auseinandersetzen müssen.
B.s Schlussfolgerungen werden in der synoptischen Forschung erwartungsgemäß nicht auf unmittelbare Zustimmung stoßen. Durch die umfangreichen Anhänge jedoch liegt der Wert des Buches schon allein darin, der synoptischen Forschung neues und bisher nicht in dieser Form zugängliches Datenmaterial für die weitere Diskussion zu liefern. Vertreter unterschiedlicher Hypothesen werden danach fragen müssen, ob und wie sich die vorgelegten Beobachtungen in ihren jeweiligen Ansatz integrieren lassen. Dabei wird auch die Frage zu stellen sein, ob sich Q-Stoff und dreifache Überlieferung wirklich so streng voneinander trennen lassen, wie es hier – didaktisch durchaus nachvollziehbar – ge­schieht. Zumal sich gerade angesichts von B.s Ergebnissen etwa die Frage neu stellt, worin sich denn die 20 Mk-Q Überlappungen [131] von den 13 Perikopen unterscheiden, in denen die Mt/Lk-agreements umfangreicher sind als ihre jeweiligen agreements mit Mk [56].
Möglicherweise ist die vorliegende Untersuchung daher auch nur ein erster Baustein zu einem vielschichtigeren Quellenmodell, wie es B. bereits 2004 angedeutet hat.