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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

524–527

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kurtz, Paul Michael

Titel/Untertitel:

Kaiser, Christ, and Canaan. The Religion of Israel in Protestant Germany, 1871–1918.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIV, 370 S. = Forschungen zum Alten Testament, 122. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-155496-4.

Rezensent:

Martin Ohst

Am Anfang einer Gelehrten-Biographie stehen meist Einzelstudien, in denen weiter ausgreifende Bezüge lediglich angedeutet werden, und wenn alles gut geht, dann werden diese zunächst angedeuteten Linien in der Folgezeit immer weiter ausgezogen, bis aus ihnen große Gesamtbilder entstehen. Paul Michael Kurtz hat sich mit seiner Göttinger Dissertation sogleich an ein großes Panorama-Bild gewagt. Dessen Titel klingt, jedenfalls für deutsche Ohren, ein bisschen reißerisch, und so geht man an die Lektüre mit einer gewissen Skepsis – die jedoch bei mir alsbald rückhaltloser Anerkennung gewichen ist.
K. präsentiert, begünstigt durch Konrad Hammanns 2014 er­schienene Biographie Hermann Gunkels (1862–1932) und die 2013 von Rudolf Smend edierten Briefe Julius Wellhausens (1844–1918), ein Doppelporträt dieser beiden Alttestamentler, welches sie trotz aller zwischen ihnen obwaltenden Differenzen doch als Reprä-sentanten eines übergreifenden geistes- und historiographiegeschichtlichen Zusammenhanges wahrnehmen lehrt. Dabei bietet er keine herkömmliche Forschungsgeschichte: Die doch mindestens bis zu Herder und de Wette zurückreichende Vorgeschichte von Wellhausens kritischer Reorganisation der Geschichte Israels und des Judentums auf der Grundlage tief einschneidender Quellenkritik und von Gunkels Leitinteresse an der gelebten Religion, die sich in den unterschiedlichen Formen poetischer und prosaischer Literatur Ausdruck verlieh, bleibt im Hintergrund. Aber dazu gibt es ja auch schon Literatur. Was schwerer wiegt: Es finden keine Detailvergleiche zwischen den exegetischen Einzelarbeiten dieser beiden Meister des kritisch-engagierten Verstehens uralter Texte statt; K. lädt seine Leser vornehmlich ein, deren programmatisch reflektierenden ›Sonntagsreden‹ zu lauschen, statt ihnen bei ihrer Alltagsarbeit über die Schultern zu sehen.
K. will mit seinem Buch um Aufmerksamkeit für den bleibenden Reiz und Wert der Historiographie bzw. der historistischen Theologie werben, die in Deutschland etwa zwischen 1860 und 1930 ihre Blüte erreicht hat. Er tut das aber nicht, indem er die Töne einer distanzlosen Apologetik oder Heldenverehrung anschlägt, sondern indem er das praktiziert, was man bei diesen Geschichtsschreibern immer noch am besten lernen kann: Er historisiert diese Historisten ihrerseits gründlich.
In einer pointiert-essayistischen Einleitung legt er, ausgehend vom »Bibel-Babel-Streit«, dar, welche Erschütterungen noch im frühen 20. Jh. die auf eine breite Öffentlichkeit zielende Infragestellung des biblisch fundierten und über viele Jahrhunderte kirchlich tradierten Bildes von der einzigartigen Geschichte des Gottesvolkes auszulösen vermochte, zählte doch diese Großer-zählung zu den fundierenden Beständen des eigenen kulturellen Selbstbewusstseins, in welchem das Erbe der Synthese aus klassischer Antike und Christentum als verpflichtendes Privileg wirksam war.
Auch Wellhausen und Gunkel partizipierten lebenslang an dieser Vorstellungs- und Gedankenwelt: Ihr Protestantismus, welcher sie in Jesus den einsamen Gipfelpunkt der menschlichen Religionsgeschichte sehen ließ und ihre deutlich zwischen deren Phasen unterscheidende Wertschätzung der israelitischen und jüdischen Religion bestimmte, war die Basis ihres historischen Wahrnehmens und Verstehens wie ihrer kritischen Zeitgenossenschaft. Mit ihren Beiträgen zur kritischen Bibelwissenschaft verfolgten sie nicht die Absicht, all das zu vergleichgültigen oder preiszugeben, sondern sie wollten es auf moderne, zeitgemäße Weise fortführen und vertiefen.
Durch K.s gesamte Untersuchung zieht sich als dynamisches Leitmotiv die Beobachtung, dass es dieses erkenntnisleitende Interesse war, welches zwischen diesen beiden Historikern und Exegeten, die unterschiedlichen Generationen angehörten und unterschiedliche methodische Ansätze verfolgten, Gewähr leistete für eine die Differenzen umgreifende und fruchtbare Auseinandersetzungen ermöglichende Gemeinsamkeit.
In drei jeweils parallel konstruierten Kapiteln stellt er seine Protagonisten vor. Zunächst gibt er jeweils einen Überblick über ihre wissenschaftlichen Biographien. Hier erörtert er auch die politik-, sozial- und bildungsgeschichtlichen Kontexte ausführlich; dabei wird das Bild des 2. Deutschen Kaiserreichs weder überhöht noch durch Negativklischees entstellt. In einem zweiten Durchgang werden ihre historischen Arbeitsfelder sowie die me­thodischen und epistemologischen Leitlinien ihrer Historiographie herausgearbeitet und nachgezeichnet. Endlich zeigt er dann die Leitinteressen und Leitintentionen auf, an denen sich ihre Arbeiten orientierten und welche ihnen den inneren Zusammenhalt verliehen: Wellhausen verfolgte in der Geschichte Israels und des Frühjudentums (wie in verwandter Weise in der Frühgeschichte des Islam und den Anfängen des Christentums), wie lebendige Religion zum Moment der produktiven, vorwärtstreibenden Unruhe in der Geschichte einer Nation wird, und wie sie ihre Dynamik einbüßt, wenn sie sich innerhalb des Volkes oder der Gesellschaft zu einer aparten Institution verfestigt. Dabei geht Religion keineswegs in ihren gesellschaftlichen Funktionen auf, sondern sie steht ein für das Recht menschlicher Individualität, das tiefer gründet und weiter reicht als die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen und sozialen Welt (zusammenfassend 160–165): »He believed human history – the connections of pasts to the present and the future – to be unified, knowable and meaningful. He also upheld the significance of the individual and personal formation« (165; vgl. auch 54–57). Im Gegenlicht des Widerspruchs zeigt sich hier indirekt, aber deutlich das Profil des trostlosen mechanistischen Monismus, wie ihn David Friedrich Strauß, einer der Anreger des theologischen Historismus, in seiner späten Schrift »Der alte und der neue Glaube« (1872) vertreten hatte. Wie andere Zeit- und Altersgenossen war Wellhausen offenkundig der Meinung, man könne diesem gescheiterten Historismus nicht durch die Flucht aus der Historie, sondern allein durch ihr erneuertes Verstehen begegnen.
All das konnte für Wellhausen historische Arbeit nur leisten, wenn sie sich streng auf ganz bestimmte Lebens- und Ereigniszusammenhänge in ihrer zeitlichen Sukzession konzentrierte und diese auf der Grundlage sorgfältigster Quellenkritik und -rekonstruktion in einem Erzählzusammenhang reproduzierte. Allem assoziativen und divinatorischen Vorgehen, das die damit gesetzten Grenzen überschritt oder ignorierte, war er abhold. Hermann Gunkel war, wie andere Angehörige seiner Generation, bei aller dankbaren Anerkennung der Leistungen Wellhausens und ihres bleibenden Werts nicht bereit, sich diesen Restriktionen zu unterwerfen. Er suchte zu persönlich gelebter Religion vorzustoßen; »he described the exegetical ideal as a mirroring, listening or channeling the great pious men of old« (276) – allerdings nicht in ungezügeltem, durch subjektive Geschmacksurteile gelenkten Eklektizismus, sondern methodisch diszipliniert durch die Einsicht, dass auch Zeugnisse religiösen Lebens Literatur sind und insofern zu bestimmten Gattungen gehören, die ihrerseits geschichtliche Wandlungen durchlaufen: So fasste er eine literaturgeschichtliche Sicht der biblischen Frömmigkeitszeugnisse ins Auge, die dann ihrerseits nicht auf die kanonisierten Dokumente Israels und des Frühjudentums zu beschränken sei, sondern diese wiederum im Kontext der anderen gleichzeitigen Literaturen und Mythologien des Vorderen Orients betrachtete und, inspiriert von Analogien, welche die damalige Orientalistik zutage förderte, weit ausgreifend nach den Wechselwirkungen fragte.
K. hat primär eine angloamerikanische Leserschaft vor Augen, und darum übersetzt gibt er all seine vielen Quellenzitate in englischen Übersetzungen. Zumeist stammen sie von ihm selbst – eine mühselige Arbeit, die ihm, soweit ich das zu beurteilen vermag, exzellent gelungen ist. Man wünscht diesem Buch aber auch viele deutsche Leser, zeigt es doch, dass »Literarkritik«, »Formgeschichte« und »Religionsgeschichtlicher Vergleich« voraussetzungsreiche, hoch reflektierte Ansätze geschichtlichen Verstehens sind und nicht bloß Stationen auf einem exegetischen Methodenparcours, der auf dem Wege vom Text zur Predigt zu absolvieren ist und dessen Bewältigung unseren Studenten auf den Exerzierplätzen der Proseminare eingedrillt wird. Da viele unter ihnen trotz mindestens achtjährigen Unterrichts nur über ganz unzulängliche Englisch-Kenntnisse verfügen, ist eine deutsche Übersetzung dieses ungewöhnlichen Erstlingswerks ein ernsthaftes Desiderat.