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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

514–516

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Oshima, T. M. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Teaching Morality in Antiquity. Wisdom Texts, Oral Traditions, and Images. Ed. with S. Kohlhaas.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. IX, 304 S. = Orientalische Religionen in der Antike, 29. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-156480-2.

Rezensent:

Rainer Kessler

Der anzuzeigende Band versammelt achtzehn Artikel, die das Ergebnis eines internationalen Workshops in Leipzig 2016 über das Thema, das dem Buch den Titel gibt, darstellen. Sie decken ein disparates Feld ab, das nur mühsam unter den beiden Titelbegriffen »teaching« und »morality« zusammengefasst wird. »Lehren« ist dabei sehr weit verstanden; neben literarischen Weisheitstexten und mündlichen Sprichwörtern, womit sich die meisten Beiträge befassen, gehören dazu auch Bilder (Izak Cornelius, Communicating Divine Order and Authority: The Stela of Hammurapi of Babylon, 219–232) und Ritualaufführungen (Judith E. Filitz, At the Threshold of Ritual and Theater: Another Means on Looking at a Mesopotamian Ritual, 233–250). Noch offener bleibt, wie »morality« definiert werden soll. Thomas Krüger versteht darunter Regeln und Überzeugungen für das Zusammenleben, die verbindlicher sind als Brauch und Etikette (182). Judith Filitz setzt »teaching morality« einfach mit »knowledge transfer« gleich (233, Anm. 3), der Teil des Bildungswesens ist. In der Tat ist wohl der pädagogische Zweck von mündlicher und literarischer Weisheit das gemeinsame Dach, das die Beiträge überspannt.
Beeindruckend und bereichernd ist die Weite der Texte und Themen, die abgehandelt werden. Einige Felder werden sehr eng fokussiert, andere eher mit weitem Blick präsentiert. Besonders hervorzuheben sind die immer wieder vorgenommenen interkulturellen Vergleiche. Der erste Beitrag von Jan Dietrich, »Wisdom in the Cultures of the Ancient World: A General Introduction and Comparison« (3–18), eröffnet programmatisch mit diesem Anliegen: »In this article, I aim to present different aspects of wisdom […], and I wish to compare these traditions across the cultures of the ancient Near East, including Greece« (3). Ausdrücklich dem kulturellen Vergleich gewidmet sind auch die folgenden Beiträge. Noga Ayali-Darshan, »›Do not Open your Heart to Your Wife or Servant‹ (Khasheshonqy 13:17): A West-Asiatic Antecedent and ist Relation to Later Wisdom Instructions« (95–103), verfolgt das Sprichwort ihres Titels vom 2. Jt. in Babylonien über Ahiqar im 8. Jh. bis zum demotischen Khasheshonqy. Daniel Bodi, »Two Animal Proverbs in Ahiqar and in Aesop on Human Relationships« (104–123) konzentriert sich auf zwei Tiervergleiche, und Enrique Jiménez, »An Almost Irresistible Target: Parodying the Theodicy in Babylonian Literature« (124–133), findet in der Babylonischen Theodizee und in Parodien homerischer Epen ein ähnliches Verfahren.
Die Darstellung einzelner Kulturen, Literaturen und Texte wird eröffnet mit dem Überblick von Jan Assmann, »Tugenden und Pflichten nach altägyptischen Morallehren« (19–37). In drei Schritten verfolgt er den Weg von den Tugenden des Königsdienstes über die zivilen Tugenden und die Idee des Totengerichts bis hin zu den Tugenden der Frömmigkeit, der vom Alten über das Mittlere ins Neue Reich führt. Der folgende Artikel von Yoram Cohen überblickt die Keilschriftliteratur unter der speziellen Frage, inwiefern man überhaupt von »Weisheit« sprechen kann: »Why ›Wisdom‹? Copying, Studying, and Collecting Wisdom Literature in the Cunei-form World« (41–59). Einen Einzeltext stellt sodann Alan Lenzi vor: »›Counsels of Wisdom‹ as ›White-Collar‹ Wisdom in First Millen-nium Ancient Mesopotamia« (60–69); er diene der Ausbildung von Menschen in Leitungsfunktionen im Dienst politischer und religiöser Führer. Herbert Niehr zeigt auf, dass in Ugarit, wo Weisheitsliteratur im engeren Sinn nicht belegt ist, gleichwohl weisheitliches Denken zu finden ist, und zwar in den Königsepen: »Weisheit in den Königsepen in Ugarit« (70–91).
Unter dem Zwischentitel »Moral Teaching in the Book of Job« sind die folgenden drei Beiträge zusammengefasst. Edward L. Greenstein, »Proverbs and Popular Sayings, Real or Invented, in the Book of Job« (137–149), zeigt, wie im Hiobbuch Sprichwörter zitiert oder auch erfunden werden, um die Autorität der Redenden zu unterstreichen; indem Hiob dieses Verfahren parodiere, hebele er das Traditionsargument aus. Dominick S. Hernández, »The Expression of Moral Judgments through Imagery in Job and Ancient Near Eastern Literature« (150–163), geht der Argumentation von Hiobs Freunden nach, wo sie sich auf altorientalische Weisheitstexte stützt; besonders enge Beziehungen sieht er zum ägyptischen Amenemope. Der Beitrag von Ludger Schwienhorst-Schönberger, »›Jetzt aber hat mein Auge dich geschaut‹ (Ijob 42,5). Gibt es im Ijobbuch eine Lösung des Problems auf der Ebene des Bewusstseins?« (164–172), ist ebenso kurz wie tiefsinnig. Er schlägt vor, die häufig negativ gewerteten Elihu-Reden positiv zu verstehen. Sie forderten den Verzicht darauf, auf Gott einwirken zu wollen, und verlangten, stattdessen an sich selbst zu arbeiten. Diese Position werde in den Gottesreden, in Hiobs Reaktion darauf und in der Tatsache bestätigt, dass Elihu vom kritischen Urteil über die Freunde ausgenommen wird.
Ein nächster Block widmet sich der Theodizeefrage. Auf das Theodizee-Problem im Alten Ägypten – so der Untertitel – geht Alexandra von Lieven, »Ich habe nicht befohlen, dass sie Unrecht tun«, ein (175–181). Auf knappem Raum behandelt Thomas Krüger »Morality and Religion in Three Babylonian Poems of Pious Sufferers« (182–188). Für die Babylonische Theodizee arbeitet er heraus, dass hier Moral eine gewisse Autonomie erhält: »People should behave morally even if they do not profit from it« (187). Ebenfalls der Keilschriftliteratur ist der Aufsatz von T. M. Oshima, »When the Godless Person Thrives and a Wolf Grows Fat: Explaining the Prosperity of the Impious in Ancient Mesopotamian Wisdom Texts«, gewidmet (189–215). Wie Krüger arbeitet er heraus, dass – während traditionell die Auffassung dominiert, dass Frömmigkeit zu Wohlstand führt – in der Babylonischen Theodizee stattdessen Frömmigkeit mit dem Erwerb von Weisheit belohnt wird: »the real reward for constant demonstrations of piety is the richness of wisdom, which the gods allow people to access as a reward for their devotion« (210).
Nach den eingangs erwähnten Beiträgen zur Lehre durch Bilder und Rituale wird der Band mit zwei Artikeln abgeschlossen, die das Thema aus der Perspektive der cognitive science beleuchten. Nach Yitzhaq Feder, »Morality Without Gods? Retribution and the Foundations of the Moral Order in the Ancient Near East« (253–264), stellt der Glaube an eine kosmische Gerechtigkeit eine psychologische Notwendigkeit dar, unabhängig vom Glauben an transzendente Götter. Stärker auf den gesellschaftlichen Aspekt des Zusammenhangs von Religion und Moral hebt Karolina Prochownik in ihrem Artikel »Gods and Goodness by the Rivers of Babylon: A Cognitive Scientific Approach to Ancient Mesopotamian Moral Theology« (265–287) ab. Sie untersucht das Verhältnis von Religion und Moral mit Hilfe zweier Modelle der Kognitionswissenschaft, dem epidemiologischen und dem adaptionistischen, die das Verhältnis zwischen dem evolutionär vorgegebenen Zwang zur Ko­operation zwischen den Menschen, der Entwicklung moralischer Intuitionen und der Überhöhung durch einen Glauben an transzendente Gottheiten je unterschiedlich bestimmen.
Register erschließen den Band, der so bei aller Vielfalt und gelegentlichen Disparatheit der Beiträge gut als Arbeitsbuch genutzt werden kann.