Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

509–511

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bührer, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse. Textarbeit im Pentateuch, in Qumran, Ägypten und Mesopotamien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 287 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 108. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-156738-4.

Rezensent:

Friedrich-Emanuel Focken

In dem Band sind Beiträge zur Autorenkonferenz »Textgeleitete Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse« publiziert, die im Fe­bruar 2018 in Bochum stattfand.
In der Einleitung »Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse. Ein Vorschlag und zugleich eine Einführung in den vorliegenden Band« (1–12) erläutert Walter Bührer die Titel der Autorenkonferenz und des Bandes aus alttestamentlicher Perspektive. Mit dem Begriff »Fortschreibung« bezeichnet Bührer alle Phänomene der Textproduktion und -überlieferung bis hin zu Ab­schriften vorhandener Schriftstücke und dem Verlust von Teilen schriftlicher Texte. Im Unterschied dazu benutzt er den Begriff »Auslegung« nur für eine Teilmenge der Phänomene, die unter den Begriff »Fortschreibung« fallen, um die spezifischere Erschließungsfunktion des Begriffs »Auslegung« zu wahren. Die Begriffe »textgeleitet« und »schriftgelehrt« dienen Bührer zur Betonung der Abhängigkeit der Textproduktion und -überlieferung von bereits bestehenden Texten. Darüber hinaus würden die Begriffe »schriftgelehrt« bzw. »Schriftgelehrsamkeit« an die institutionelle Einbindung von Teilen der Textproduktion und -überlieferung erinnern. Mit den Formulierungen »schriftgelehrte« bzw. »textgeleitete Fort schreibungs- und Auslegungsprozesse« möchte Bührer die An­schlussfähigkeit an nicht-theologische Disziplinen sicherstellen. Hierin liege ein Vorteil gegenüber der – auch in weiteren Hinsichten problematischen – Formulierung »innerbiblische Schriftauslegung«. Darüber hinaus legt Bührer Wert darauf, Phasen der Textproduktion und -überlieferung nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Dementsprechend lehnt er eine strikte Trennung zwischen der text- und literarkritischen Methode ab.
Diese Überlegungen spiegeln sich in der Gliederung des Bandes wider: So sind die Studien zur Entstehung von Erzählungen aus dem Pentateuch im letzten Drittel des Bandes (159 –263) mit Studien zur späteren antiken Überlieferung ›biblischer‹ Texte im zweiten Drittel des Bandes (87–157) verbunden. Im ersten Drittel des Bandes werden vergleichbare Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse im antiken Mesopotamien und Ägypten in den Blick genommen (13–86).
Aufgrund dieses weiten Fokus gelingt die Korrelierung der Fortschreibungsprozesse, die zur Entstehung alttestamentlicher Texte geführt haben, mit ihren antiken Kontexten. Ebenso wichtig ist die Zusammenstellung von Fragen und Kategorien zu Aspekten, die jeweils typisch für viele Fortschreibungsprozesse sind, in der Einleitung und den weiteren Beiträgen dieses Bandes. Diese Fragen und Kategorien ermöglichen sehr detaillierte Beschreibungen von Fortschreibungsprozessen und gehen darin deutlich über die Anleitungen gängiger Lehrbücher zur Methodik der Exegese des Alten Testaments hinaus. Entsprechend dem Titel der Autorenkonferenz steht die Frage, inwieweit genau Fortschreibungsprozesse textgeleitet sind, im Zentrum der Einleitung und der weiteren Beiträge. Bührer unterscheidet primär textintern motivierte Fortschreibungsprozesse, die in erster Linie an den Textwelten der Verfasser und Rezipienten orientiert seien, von vornehmlich text extern motivierten Fortschreibungsprozessen, die enger mit der weiteren Lebenswelt der Verfasser und Rezipienten verknüpft seien (5).
Zu den einzelnen Beiträgen: Eckart Frahm entfaltet das Thema seines Aufsatzes »Textual Traditions in First Millenium BCE Mesopotamia between Faithful Reproduction, Commentary, and New Creation« (13–47) anhand eines Überblicks über die Gattungen mesopotamischer Keilschrifttexte. Dabei zeigt er, dass typische Arten der textgeleiteten Textproduktion wie die Aktualisierung und Kommentierung älterer Schriften gattungsspezifische Phänomene sind.
Andreas Henning Pries fokussiert in seiner Untersuchung »Intertextualität, Interferenz und Kommentar als Parameter einer dynamischen Textüberlieferung im Alten Ägypten« (49–86) auf die Erzählung der Lebensgeschichte des Hofbeamten Sinuhe und auf einen Spruch zum Nemsetopfer, einem Libationsopfer. In diesem Zusammenhang weist Pries auf Textänderungen hin, bei denen nicht mehr genau bestimmbar sei, inwieweit sie aus textinternen und textexternen Faktoren resultieren würden.
Peter Porzig nimmt in seiner Studie »Textgeleitete und gruppenbezogene Auslegungsprozesse in den Handschriften von Qumran. Ausgewählte Beispiele« (87–111) Bearbeitungen der späteren alttestamentlichen Schriften und der Gemeinschaftsregel in den Blick. Aus seinen Beobachtungen leitet er methodische Konsequenzen für Rekonstruktionen von Vorstufen biblischer Texte ab.
Stefan Schorch weist mit seinem Beitrag »Die prä-samaritanischen Fortschreibungen« (113–132) exemplarisch darauf hin, dass eine möglichst detaillierte Rekonstruktion der Art und Weise, in der Texte fortgeschrieben wurden, für ihre weitere Auslegung unverzichtbar ist. Die gegebene Typologie prä-samaritanischer Texterweiterungen scheint in einigen Aspekten auch auf weitere Fortschreibungsprozesse anwendbar zu sein.
Carsten Ziegert zeigt in seinem Aufsatz »Das Wortfeld von Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue. Auslegungen theologischer Kernlexeme in den Narrativtexten der Pentateuch-Septuaginta« (133–157), wie auf Grundlage der unterschiedlichen griechischen Äquivalente für einzelne hebräische Begriffe textgeleitete Auslegungsprozesse rekonstruiert werden können, die im Rahmen der Septuagintaübersetzung des Pentateuchs durchgeführt worden seien.
Konrad Schmid stellt in der Untersuchung »Moses Geburt und ihr literarisches Nachleben. Die innerbiblische Rezeptionsgeschichte von Ex 2,1–10 in Ex 1 und Gen 6–9« (159–177) eine Rekonstruktion eines buchübergreifenden Fortschreibungsprozesses vor. Dabei bietet er eine literargeschichtliche Erklärung für die Verbindungen zwischen der Erzählung von der Sintflut in Gen 6–9 und dem Ende der Joseferzählung in Gen 50 mit den Erzählungen von der Vermehrung und Bedrängung der Israeliten in Ex 1 und Moses Geburt in Ex 2,1–10.
Walter Bührer präsentiert in seinem Beitrag »Die didaktische und geschichtstheologische Funktion des Mannas. Textextern und textintern motivierte Fortschreibungen in Ex 16« (179–206) eine exemplarische Unterscheidung von textextern und textintern motivierten Fortschreibungen.
Christophe Nihan fokussiert in seinem Aufsatz »Narrative and Exegesis in Leviticus. On Leviticus 10 and 24,10–23« (207–242) auf zwei Erzählungen, die aus der Rezeption von Gesetzen aus dem Pentateuch resultieren und diese Gesetze revidieren würden. Die Beispiele würden zeigen, dass – zumindest im Buch Levitikus – Erzählungen und Gesetze nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.
Katharina Pyschny erläutert in ihrer Studie »Rewriting History. Phänomene textgeleiteter Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse am Beispiel von Dtn 1–3« (243–263), wie Erzählungen aus dem Exodus- und Numeribuch in Dtn 1–3 rezipiert worden seien. Eine Besonderheit dieser Kapitel läge darin, dass sie explizit als Auslegung gekennzeichnet seien. In diesem Sinne sei Auslegung nicht nur in einer diachronen Perspektive auf textgeleitete Fortschreibungsprozesse, sondern auch in einer synchronen Perspektive auf den Endtext des Pentateuchs erkennbar.
Dem Band sind ein Stellen-, Autoren- und Sachregister beigegeben. Er sei allen methodisch interessierten Exegetinnen und Exegeten des Alten Testaments empfohlen.