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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

457–460

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

[Ulrich, Hans G.]

Titel/Untertitel:

Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich. Hrsg. v. M. Hofheinz unter Mitarbeit v. K.-O. Eberhardt.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. VII, 300 S. = Ethik im theologischen Diskurs, 26. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-14109-5.

Rezensent:

Roger Mielke

Der Band versammelt Beiträge, die auf ein Symposium zurückgehen, das im Jahr 2017 anlässlich des 75. Geburtstages des emeritierten Erlanger Ethikers Hans G. Ulrich durchgeführt wurde. Es geht um eine Ethik, die ihren Grund und Maßstab in den gottesdienstlichen Praktiken hat und den Gottesdienst als einen »Ort« von Ethik versteht. Zu diesem von Marco Hofheinz in einer gewichtigen Einleitung (1–20) skizzierten Programm sind zunächst einige Be­merkungen zu machen. Dass Ethik überhaupt einen »Ort« braucht, ist nicht trivial. Die »Orts«-Gebundenheit, oder auch: Kontextabhängigkeit, ist Ethiktypen suspekt, die auf universalen Rechten und korrespondierenden Pflichten beruhen oder auf universalisierungsfähige Handlungsziele, Güter, ausgerichtet sind. Gerade mit Blick auf diese die Moderne prägenden Ethiktypen und die ihnen korrespondierenden Konzepte des Sozialen und des Politischen sprach Oliver O’Donovan treffend von einem »Loss of a sense of place«. Christliche Ethik, so dagegen die These des Bandes, entspringt dem Gottesdienst als Quelle und Erprobungsort einer Ethik, die gebunden ist an Ethos und aithos, an Übung und Ge­wohnheit ebenso wie an den »Weidegrund«, so eine ursprüngliche Bedeutung.
Dies ist nun eng verbunden mit einem Verständnis von »Tradition«, das diese nicht in erster Linie als einen zu tradierenden Be­stand betrachtet, sondern als einen Vorgang, der in eine Lebensform eingebettet ist und diese prägt. Die christliche Lebensform hat ihren Ursprung im »pathischen« Widerfahrnis des Handelns Gottes in den liturgischen Vollzügen. Mit der darin sich verdichtenden Geschichte ist eine »Grammatik« (Lindbeck) gegeben: Ein Sinnzusammenhang, der nur im Vollzug der Weitergabe artikuliert wird. Unverkennbar, dass Ethik hier nicht auf ein einsames Subjekt zielt, das seiner »moral agency« gewiss ist. In der »pathischen« Fluchtlinie liturgischer Praxis liegt dagegen die bleibende Externität, das Einbezogenwerden in das Handeln Gottes, auf das menschliches Handeln immer nur antworten kann – »geschöpfliche Lebensformen« heißt es bei Hans Ulrich. Die im pathischen Widerfahrnis des Gottesdienstes entspringende vita passiva des Christenmenschen bleibt dann eingebunden in die die Zeiten übersteigende Lebensform des Volkes Gottes, das zwar in verschiedenen konfessionellen Gestalten begegnet, aber doch in der »Story« Gottes zusammengehalten wird. Setzt sich das Programm damit dem Vorwurf einer partikularen Binnenethik aus, deren Wert für den »öffentlichen Vernunftgebrauch«, die moralische Deliberation einer freiheitlichen Gesellschaft höchst beschränkt ist? Die Frage ist berechtigt, öffnet aber auch die Augen dafür, wie selbst universalistische Ethiken immer in historisch kontingenten Praxisformationen verankert und nur im Rahmen einer vorgängigen moralischen Praxis funktionsfähig sind.
Zu den einzelnen Beiträgen: Der Band wird eröffnet von einem ersten Teil, der unter dem Titel »Explorationen konfessioneller Gottesdiensttraditionen« die den Liturgien impliziten Ethiken erkundet. Der rumänisch-orthodoxe Theologe Picu Oleanu entfaltet die »Göttliche Liturgie« als die »pathische Erfahrung« des Geis-tes. Marianne Heimbach-Steins zeigt am Ritus der Fußwaschung in der Liturgie des Gründonnerstags, wie der Gottesdienst eine soziale Praxis der Gerechtigkeit »außerhalb« (48) intendiert. Johannes von Lüpke widerspricht aus den Quellen lutherischer Theologie der neuzeitlichen Tendenz zur Ethisierung des Gottesdienstes. Die Unterscheidung des rechtfertigenden Handelns Gottes vom Handeln des Menschen ermögliche eine tiefere Einsicht in die »Bedingungen der Möglichkeit […], sich für das Gute entscheiden zu können« und Gottesdienst als einen »Raum der ›Einstimmung‹ in das Wirken Gottes« zu verstehen. Bernd Wannenwetsch geht der »Common Moral Agency« nach, die in der anglikanischen Tradition durch das »Book of Common Prayer« geprägt sei, das über soziale Schranken hinweg eine Jahrhunderte überdauernde politisch wirkmächtige gemeinsame Sprache des Gebets entwickelt habe. Marco Hofheinz zeichnet in der reformierten Tradition Konturen eines gottesdienstlichen Ethos nach, die vom »Wortbezug« (88), über »Gemeindebezug« (90) und »Erinnerung« (94) bis hin zum »Bezug auf das Almosen« (97), auf die »Buße« (99) und die »Fürbitte für die Obrigkeit« (101) gehen. Zentral ist die Einsicht: »Im Gottesdienst konstituiert sich […] die Gemeinde als ethisches Subjekt.« (90) Stefan Schweyer legt in seinem mit aufschlussreichem empirischem Material unterlegten Beitrag aus freikirchlicher Perspektive dar, wie in einer an Alltagsvollzügen orientierten gottesdienstlichen Praxis die Differenz von sakral und profan überschritten wird.
Der zweite Teil des Bandes widmet sich »Explikationen zur ethischen Traditionsbildung« im Gottesdienst. Karin Ulrich-Eschemann zeigt, wie die gottesdienstlichen Vollzüge einerseits für Diskontinuität stehen, zentral die eine neue Identität vermittelnde Taufe, darin aber in Anknüpfung an die Gottesgeschichte mit Is-rael traditionsstiftend werden, traditio activa und vita passiva vermittelnd. Der gewichtige Beitrag von Bernd Wannenwetsch ist besonders hervorzuheben: Er entwickelt ein Verständnis des Politischen jenseits des »Gewaltparadigma(s)« (181). Gottesdienst ist hier Ort der Versöhnung und einer »Ermächtigung« (197) zum politischen Leben, die gerade aus der Begrenzung des Politischen entspringt. Diese Linie setzt Stefan Heuser in seinem Beitrag fort. Ihm geht es um die »Tradierung von Frieden im Gottesdienst«, die als »die Teilhabe am Ethos des Lebens mit Gott« (214) vollzogen werde. Treffend das Resümee: »Je weniger die friedensbezogenen Elemente der Liturgie in ihrem Gehalt und ihrer Rhetorik moralisch aufgeladen werden, desto pluraler bleiben die Punkte, an denen die Wirklichkeit des Friedens Gottes durch die Liturgie hindurch die Lebenswelt der Menschen tangieren kann.« (226) Volker Stümkes »Ethische Überlegungen zum Gebet« entwickeln aus der Kernpraktik christlicher Spiritualität die »Ermöglichung moralischen Handelns«, das aus der Beziehung zu Gott erst seine genuine Freiheit gewinne. Gerard den Hertog geht den Ambivalenzen der ethischen Predigt nach. Nur von der Wirklichkeit Christi her bleibe die Welt als Schöpfung im Blick, als Ort des Wirkens Gottes und göttlicher Präsenz, was wiederum Voraussetzung dafür sei, dass ethische Predigt nicht gesetzlich werde und das »ethische Subjekt« heillos überfordere (247).
Der abschließende Beitrag von Hans Ulrich selbst resümiert die Beiträge unter dem Leitgesichtspunkt der »ökumenischen Aufgabe« des Tradierens von Ethik: »Sich in Gottes Wirklichkeit und seiner Geschichte einfinden: Alle hier versammelten Beiträge folgen dieser Grammatik.«, schreibt Ulrich (284). Diese »Topologie« sei dem konstruktiven und programmatischen Zugriff des Verstehens und der Gestaltung vorgegeben.
In der Summe wird hier ein höchst empfehlenswerter Band vorgelegt, der eine praxeologisch informierte Ethik skizziert, die sich den Impulsen Wittgensteins und MacIntyres verdankt. Hans Ulrich und seine Schüler vertreten diesen »kirchlichen Kommunitarismus« seit vielen Jahren in der deutschsprachigen theologischen Landschaft, ohne doch in einem Umfeld, das einerseits durch liberale Traditionen und andererseits durch die späten Ausläufer der Theologie Karl Barths dominiert wird, recht Gehör zu finden. Nun ändert sich diese Landschaft freilich, der »practical turn« und die praxeologischen Theoriesprachen in Kultur- und Sozialwissenschaften reagieren mit ihrer Betonung des leibhaftigen, kontextgebundenen Verhaltens auf das Ungenügen an der Alternative von strukturalistischen Theorien einerseits und handlungstheoretischen Ansätzen andererseits. Eine Rezeption rezenter praxeologischer Ansätze wäre auch dem ethischen Programm hilfreich und förderlich. Zu denken wäre etwa an Arbeiten von Andreas Reck-witz, von Karin Cetina-Knorr, oder – in rechtsphilosophischer und rechtsethischer Perspektivierung – an Christoph Möllers »Die Möglichkeit der Normen«.
Allerdings: Die »empirische« Frage nach Schwäche und Relevanzverlust des Gottesdienstes stellt eine ernste Anfrage an das Programm. Der »Ort« ist im Wandel, er wird zum »Weg«, auch dies eine biblische Leitmetapher.