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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

446–448

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Strasser, Peter

Titel/Untertitel:

Die ganze Wahrheit. Aufklärung über ein Paradoxon.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2019. 144 S. = Schwabe reflexe, 61. Kart. EUR 19,50. ISBN 978-3-7965-3947-3.

Rezensent:

Christian Danz

Der in Graz und Klagenfurt lehrende und inzwischen emeritierte österreichische Philosoph Peter Strasser widmet sich in seinem unterhaltsam geschriebenen Buch Die ganze Wahrheit der Frage, wie viel Wahrheit dem Menschen zumutbar sei. Ingeborg Bachmanns Diktum – »Die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar« – nimmt S. vor dem Hintergrund von »Fake News« auf der einen Seite und der konstruktivistischen Entlarvung der Wahrheit als Illusion und Fiktion auf der anderen zum Ausgangspunkt einer kritischen Evaluierung der Aporien und Paradoxe, in die sich jenes Diktum verstrickt. »Im Zentrum des Gegenlichts, aus dem ich sowohl den Konstruktivismus als auch den Naturalismus beleuchten möchte, stehen zwei Fragen: ›Wie viel Wahrheit ist dem Menschen zumutbar?‹ Und: ›Was wäre, wenn wir die ganze Wahrheit wüssten?‹« (12) Entsprechend dieser Leitfragen gliedert sich das Buch in zwei Hauptteile: Teil eins behandelt Die zumutbare und die ganze Wahrheit (17–68) und Teil zwei Was wäre, wenn wir die ganze Wahrheit wüssten? (69–134). Eingerahmt werden die Überlegungen durch einen knappen Prolog (Kein Lob der Torheit, 9–13) und einen Epilog (Untergangswahrheit, 135–142). Dabei wird die These ausgeführt, dass Wahrheit ein Grenzbegriff sei, für den Entzogenheit konstitutiv ist. Andernfalls lassen sich Wahrheitsbezogenheit, an der S. festhält, und deren nur endliche Repräsentationen nicht aufeinander beziehen. Ohne eine Ausrichtung auf eine Wahrheit ›hinter‹ den vielen Wahrheiten der Geschichte, den vielen Antworten auf seine Fragen, würde der Mensch diese nicht mehr infrage stellen und damit in einem sacrificium intellectum seine kritische Vernunft zum Opfer bringen. Jede Wahrheit lässt sich negieren, und gerade deshalb kann die Wahrheit nichts Bestimmtes, sondern nur eine regulative Idee sein. »Alles, was wir auf solche Weise erfahren, beläuft sich darauf, dass die ›ganze Wahrheit‹ – was für ein Popanz des eitlen Geistes! – nichts ist, das sich aussprechen, ausforschen, objektivieren ließe.« (65)
Diese Grundgedanken entwickelt S. in den beiden Hauptteilen seiner Schrift in einem dialektischen Durchgang durch diverse wahrheitstheoretische Debatten im Spannungsfeld von cum grano salis naturalistischer Wahrheitsbehauptung und konstruktivis-tischer Auflösung des Wahrheitsgedankens. Anliegen der gut zu lesenden Ausführungen ist es, Absolutheit und Relativität der Wahrheit in einen solchen Zusammenhang zu bringen, dass beide Seiten bewahrt werden. Das bedeutet, die Endlichkeit jeder be­stimmten Wahrheit ist mit der Ausrichtung auf einen absoluten Wahrheitsgedanken zu verbinden. An der Idee einer absoluten Wahrheit (vgl. 27) hinter den vielen existentiellen Wahrheiten (29) kann folglich nur so festgehalten werden, wenn jene unbestimmt oder entzogen bleibt (47–54). Das gilt auch für Gott. Würde er nicht nur die Wahrheit sein, sondern diese auch kennen, so wäre er nicht besser dran als wir. Ohne Differenz und damit als bestimmte, ist keine zu wissende Wahrheit möglich. Aber jede bestimmte Wahrheit ist zugleich immer auch falsch. Damit ist die Ausrichtung auf die Wahrheit, dass also jede Antwort wieder hinterfragt werden kann, für den Menschen konstitutiv. »Diesen Geschöpfen – unsereinem – ist nicht auszutreiben, nach der ganzen Wahrheit zu fragen. Und ebendieser Wesenszug richtet sich nun aber bald, und zwar mit der Entstehung jener Fragehaltung, die wir als Liebe zur Weisheit kennen, gegen den Omnipotenz-Anspruch der Götter.« (61) Zumutbar an Wahrheit ist somit dem Menschen lediglich jenes sokratische Diktum, demzufolge er nur wisse, dass er nichts weiß. Aber genau das impliziert bereits die Ausrichtung auf eine absolute Wahrheit.
Der zweite Teil der Studie führt diesen Gedanken weiter aus und gibt ihm eine geistphilosophische Fundierung (87–102). Diese wird plausibilisiert durch die intersubjektiv geteilte Lebenswelt (Die uns gemeinsame Welt, 79–85). Dabei fungiert der Geist als das Medium, in dem Wahrheit allein repräsentiert werden kann, der aber als Medium selbst nicht darstellbar ist. »Der Geist ist absolut, und die im Medium des Geistes sich formierende Realität ist diesem Absolutheitsanspruch verpflichtet.« (99) Die Geistphilosophie nimmt die Differenz von absoluter und relativer Wahrheit auf und führt sie weiter. Zugänglich ist der Geist bzw. die absolute Wahrheit nur als eine bestimmte, aber nicht als sie selbst. S. nennt das innere Anschauung (113–119), ein »begriffslose[s] Offenbarwerden des be­deutsamen Ganzen« (117) oder Imaginationen von der Ganzheit des Lebens (114 f.). »Wir kommen aus dem Ganzen, und im eigenen Spiegelbild beschleicht uns die Ahnung unserer tragischen endlichen Wahrheit: Wir werden erst dann wieder ganz bei uns selbst sein, wenn wir vollkommen real geworden sind.« (131) Nur end-liche, wandelbare Wahrheiten über sich selbst und seine Welt zu haben, aber gerade darin auf einen transzendenten Einheitshorizont bezogen zu sein, oder, mit Kant, von Fragen belästigt zu werden, die sich weder abweisen noch beantworten lassen, ist die Bestimmung des Menschen. Damit ist am Ende auch Ingeborg Bachmanns Diktum wieder ins Recht gesetzt, demzufolge dem Menschen die ganze Wahrheit zumutbar ist.
S. bietet in seinem Buch eine luzide Darstellung des Wahrheitsgedankens in seiner Spannung von absoluten und relativen Momenten, wie sie seit 1900 vor dem Hintergrund von Historismus und Ausdifferenzierung der Kultur diskutiert werden. Ob seine Diagnose überzeugend ist, ohne einen Transzendenzbezug ende die Menschheit in der Barbarei (vgl. 141), mag man diskutieren. Schwieriger ist es mit dem Verhältnis von unbestimmter absoluter Wahrheit und den relativen Wahrheiten der Geschichte. Ihrer kritischen Funktion ungeachtet, nämlich das Weiterfragen aufrechtzuerhalten, teilt das Postulat einer ganzen Wahrheit die Aporien von Modellen, die ein Absolutes hinter den geschichtlichen Wahrheiten behaupten, aber gerade dadurch das Konkrete und Einzelne aufheben bzw. es in ein bloßes Durchgangsmoment hin auf dem W eg zur ganzen Wahrheit konstruieren. Vor dieser Tendenz ist auch S. nicht (völlig) gefeit, wenn aller Kautelen ungeachtet im »vordergründig Misslungenen« des menschlichen Lebens »ein tieferes Gelingen« (115) behauptet wird.