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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

445–446

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Majetschak, Stefan

Titel/Untertitel:

Wittgenstein und die Folgen.

Verlag:

Stuttgart: J. B. Metzler Verlag (Springer Nature) 2019. VIII, 164 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-476-04934-6.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Im »Diktat für Schlick«, entstanden Anfang der 1930er Jahre, sagt Ludwig Wittgenstein: »Ich habe nichts dagegen, dass du an der Maschine der Sprache ein leerlaufendes Rad anbringst, aber ich wünsche zu wissen, ob es leer läuft oder in welche anderen Räder es eingreift.« Der Wunsch zu wissen, ob das Rad leerlaufe, ist demnach längst erfüllt; Wittgenstein scheint sich entschieden zu haben, um den befürchteten Leerlauf bereits kritisch zu kommentieren. Adressat dieser Kritik ist die metaphysikaffine Gegenstimme, die wiederum personalisiert werden kann. Hinter ihr steckt Martin Heidegger, dessen Satz »Das Nichts nichtet« den analytischen Spott des Wiener Kreises auf sich gezogen hatte. Rudolf Carnaps positi-vistische Destruktion der Annahme, jener Satz sei ein Kandidat für eine sinnvolle Bedeutung, ist bestens bekannt. Weit weniger be­kannt ist aber, dass Wittgenstein – offenbar durch Teilnehmer des Kreises mit Heideggers »Nichtung« in Berührung gebracht – ebenso kritisch auf jene Pseudofeststellung reagierte. Im Gegensatz zu Carnap handelt es sich jedoch nicht um eine sinnkritische Replik, die Wittgenstein in seinem Frühwerk weitgehend geteilt haben dürfte, sondern um ein Erfragen und Ertasten des Kontextes einer derartigen Aussage. In welche anderen Räder dieses eine Rad hineingreifen und welche anderen es antreiben würde, sei durch Befragen und Selbstbefragung des Metaphysikers zu erkunden. Und dabei würde dann, so die Vermutung, der Leerlauf der Räder und damit ihre Zusammenhangslosigkeit aufgedeckt werden.
Diese Szene ist eine der nicht ganz so häufigen Passagen, in denen das hier anzuzeigende Buch über die bloße Darstellung hinausgeht und, wenn auch tentativ und skizzenhaft, eigene Akzente setzt. Das ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei diesem Büchlein von Stefan Majetschak, der in Kassel lehrt und u. a. mit einigen Arbeiten zu Wittgenstein hervorgetreten ist, um eine knappe Einführung in dessen Gesamtwerk. Auch dort, wo es zu­weilen naheliegt, etwa bei der Frage, ob es neben dem Frühwerk und den Philosophischen Untersuchungen einen »dritten« oder gar »vierten« Wittgenstein gebe, hält sich M. zurück. Stattdessen gibt er der meist linearen Werkentwicklung den Vortritt und versteht es, den Gedankengang Wittgensteins anhand zentraler Begriffe auch für »unbelastete« Leser greifbar werden zu lassen.
Auf eine biographische Übersicht folgt eine Einführung in die Bildtheorie des Tractatus samt der Eingrenzung des Mystischen, dem das Schweigen vorbehalten bleibe. Dann wird die Zeit des »Übergangs« der 1930er Jahre nachgezeichnet, in die auch die oben geschilderte Auseinandersetzung unter dem Eindruck der Psy-choanalyse – Philosophie als »Therapie« – fällt. Mittels der zentralen Konzepte der Philosophischen Untersuchungen – »Sprachspiel«, »Lebensform«, »übersichtliche Darstellung«, »Regelfolgen«, »Privatsprache« und deren Unmöglichkeit – wird dann der »zweite« Wittgenstein umsichtig vorgestellt, um schließlich die späten Aufzeichnungen zur Philosophie der Mathematik, der Psychologie und der Skepsis samt ihrer Grenzen – den »Gewissheiten« – zu behandeln. Wie der Titel bereits in Aussicht stellt, werden gegen Ende auch »die Folgen« Wittgensteins bedacht, und hier erfreulicherweise nicht einfach beschränkt auf die philosophische Rezeption, sondern auch mit Blick auf Wittgensteins Nachleben in der Literatur, der Musik und sogar im Kino (man denke an Derek Jarmans Wittgenstein-Film von 1993).
Lücken sind im Genre kurzer Einführungen unvermeidlich; doch eine, die im vorliegenden Fall etwas stört, ist das Übergehen des Religionsthemas. Und dies betrifft Wittgensteins eigene Religiosität, die nicht unwichtig ist, um weite Teile seines Werkes und seines Ringens zu verstehen; aber es betrifft auch Probleme religionsphilosophischer Natur, die entscheidend über das hinausgehen, was in diesem Buch über Ethik und Ästhetik vorgetragen wird. Auf’s Ganze gesehen liegt jedoch eine verlässliche, gut ge­schriebene Einführung in das Leben und vor allem Werk eines der wichtigsten Philosophen des letzten Jahrhunderts vor, dessen Wichtigkeit allerdings dazu geführt hat, dass lang vor diesem Band bereits ähnliche Einführungen veröffentlicht wurden (etwa von Richard Raatzsch bei Junius). Und daher muss ich gestehen, dass mir die Antwort auf die ja ganz naheliegende Frage »Warum jetzt dieses Buch?« nicht ganz so leichtfällt.