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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

435–437

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Grelak, Uwe, u. Peer Pasternack

Titel/Untertitel:

Parallelwelt. Konfessionelles Bildungswesen in der DDR. Handbuch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 700 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-06045-0.

Rezensent:

Christoph Kähler

Die dialektische Provokation beginnt mit einer Fotografie auf dem Buchdeckel. Sie zeigt die triste Baracke, in der die Theologische Fa­kultät vorzeiten in Ostberlin untergebracht war – Zeichen für den mangelnden Respekt der sozialistischen Universität gegenüber der eigenen Tradition und den Religionen wie auch Symptom des wirtschaftlichen Verfalls der DDR. Wer aber von diesem Bild auf ein kümmerliches kirchliches Bildungswesen schließen wollte, wird verblüfft durch Vielzahl und Vielfalt der beschriebenen kirchlichen bzw. religiösen Bildungsangebote. Nur war uns Beteiligten diese Fülle kaum bewusst, denn erstmals werden viele Aktivitäten auch a us kleineren Kirchen und Religionsgemeinschaften gemeinsam dokumentiert. Es mussten wohl erst ein ehemaliger Student des »Wissenschaftlichen Kommunismus« (Peer Pasternack) und sein jüngerer Mitarbeiter aus dem Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Uwe Grelak) kommen, um nachträglich und von außen diese nicht-kommunistischen Bildungswelten zu erfassen. Da das HoF in der Tradition des Zentralinstituts für Hochschulbildung der DDR in Berlin steht, erstaunt schon, wer hier zur kirchlichen Zeitgeschichtsforschung beiträgt. Immerhin hat sich Pasternack bereits seit der Wende – noch als Studentenvertreter – publizistisch um Rundblicke in die Bildungswelten des real existierenden Sozialismus bemüht und dabei auch Theologie und Kirchen einbezogen.
Das nun vorgelegte Nachschlagewerk schafft einen Überblick über weite Landschaften. Die Autoren erfassen katalogartig zu­nächst die Institutionen der formalen Bildung, richten aber ihren Blick auch auf kirchliche bzw. religiöse Arbeitsformen, die nur in einem sehr weiten Sinn als Lehre eingeordnet werden dürften.
Dass vieles nur summarisch aufgezählt werden kann, ergibt sich aus den drei Dimensionen dieses Panoramas religiöser Bildung – in und trotz der »Diktatur des Proletariats« auf deutschem Boden: 1. Es werden tendenziell alle Kirchen, Freikirchen und religiösen Sondergemeinschaften berücksichtigt – einschließlich der kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR. 2. Zeitlich reicht der Rahmen von 1945 bis zum Ende vieler Einrichtungen weit nach 1990. Dabei werden auch kurzzeitige oder sehr selten angebotene Kurse wie die für evangelische Kirchenjuristen aufgeführt. 3. Sachlich werden alle Bildungsformen vom Kindergarten bis zur akademischen Aus- und Weiterbildung, von der Kinder- und Jugendarbeit über die Studentengemeinden bis zu Gemeindeseminaren und Hauskreisen sowie zu theologischen Arbeitsgemeinschaften und publizistischen Aktivitäten aufgelistet.
Die einzelnen Einrichtungen sind unter einheitlichen Rubriken katalogisiert: Nach einer begrifflichen Zuordnung, soweit sie nicht schon aus dem Namen eindeutig zu erkennen ist, folgen obligatorisch: die konfessionelle Zugehörigkeit, die Trägerschaft, die »zentralen Daten« (Gründung, Neugründung, Umwandlung, An­gliederung, Anerkennung, Schließung o. Ä.) und Zitate zum in­haltlichen Profil. Sie werden fallweise ergänzt durch Notizen über Zugangsvoraussetzungen, Statistisches und Organisatorisches, manchmal auch Kooperationen und Netzwerkeinbindungen. Da statistische Angaben und die Bemerkungen zum inhaltlichen Profil oft auf größeren Selbst- oder Fremddarstellungen beruhen, wird damit auf weiterführende Informationen hingewiesen. Das Werk bietet jedoch keine Angaben zu einzelnen Personen und ihrem Einfluss. Diese bleiben den veröffentlichten Berichten der Beteiligten und gesonderten Untersuchungen vorbehalten, wie sie teilweise für Theologische Fakultäten und Kirchliche Hochschulen bereits vorliegen.
Das Werk fasst fünf Veröffentlichungen der beiden Autoren zusammen, die zwischen 2016 und 2018 im HoF erarbeitet wurden. Insgesamt übernimmt das Handbuch weithin die Texte der früheren Publikationen, tilgt Doppelungen, ergänzt und korrigiert sie, so dass der Band faktisch eine zweite verbesserte Auflage dieses Projektes darstellt. Durch den extrem weiten Fokus ergibt sich als frappierendes Ergebnis, dass »das konfessionell geprägte Bildungswesen in der SBZ bzw. DDR über die Jahrzehnte hin 1.432+x Einrich tungen, Arbeitszusammenhänge und Medien (umfasste)« (22). Zugleich rechnen die Autoren wohl zu Recht damit, dass es im »Kernsegment des konfessionell gebundenen Bildungswesens« von 1949 bis 1989 einen zahlenmäßigen Aufwuchs der Institutionen um 45 % gegeben habe, während die Kirchen nahezu vollständig aus den Schulen verdrängt wurden. Auch im weiteren Bereich sei ein Wachstum von acht Prozent zu verzeichnen (22). Dies geschah, als Abwanderung und Behinderung von Christen die Zahl der Kirchenmitglieder in der DDR massiv dezimierten. Damit existierten in der relativ kleinen DDR die weitaus meisten Ausbildungsstätten für den kirchlichen Dienst von Theologen, Pädagogen, Kirchenmusikern und Kirchenjuristen im Ostblock. Was die Ursachen dieser Kleinteiligkeit und Vielfalt waren, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Eine Kontextualisierung in der extrem zergliederten Hochschullandschaft der DDR hätte dafür bereits erste Hinweise erbracht. (Sachsen hatte 1990 insgesamt 24 Institutionen mit je eigenem Promotions- und Habilitationsrecht!) Erst nach 1989 haben größere Freiheiten und gleichzeitige finanzielle Zwänge zu massiven Rationalisierungen und Reduktionen geführt. Die Schließung, Zusammenführung oder Übernahme der vier Kirch-lichen Hochschulen (Berlin, Naumburg, Leipzig und Erfurt) zu-gunsten von staatlichen Fakultäten sind nur Beispiele für diese Konzentrationsprozesse.
Angesichts der breiten Darstellung bleibt es nicht aus, dass manche Einrichtungen und Arbeitszusammenhänge nicht erfasst oder sachlich bzw. terminologisch nicht korrekt dargestellt werden. Aus der unmittelbaren Erfahrung des Rezensenten betrifft das die Katechetischen Lehrgänge beim Theologischen Seminar Leipzig, die mangels ausreichender Bewerbungen lediglich in zwei Durchgängen stattfanden (229 f.). Zugleich ist der einmalige »Kirchliche Kurs für Kinder- und Jugendarbeit« in Leipzig mit organisatorischer Unterstützung des ThSL nicht aufgenommen (1985–1990). Auch die Arbeitsgemeinschaft der evangelischen und katholischen Neutestamentler der DDR mit ihren jährlichen Ta­gungen findet keine Erwähnung. Manches wie die altsprachlichen Klassen der staatlichen Erweiterten Oberschulen sollte man nicht als »kirchliche« Bildung aufführen, auch wenn ihre Abiturienten oft Theologie studierten. Neben dem evangelischen Buchhandel und seiner Vernetzung fehlt der nicht schlechter organisierte ka­tholische Bereich. Gleiches gilt für das Jungmännerwerk in Mecklenburg. Dass es am Sprachenkonvikt in Berlin einen eigenen gymnasialen Vorkurs (93 f.), mithin Immatrikulationen ohne Abitur, gegeben habe, ist so nicht richtig. Allerorts mussten und müssen die drei alten Sprachen von vielen erst innerhalb des Theologiestudiums erlernt werden. Die Liste der Unzulänglichkeiten werden Kundige je für ihren Bereich leicht erweitern können, was angesichts des Umfangs der Aufgabe nicht verwunderlich ist. Es wäre zu wünschen, dass im HoF eine elektronische Pinnwand für entsprechende Hinweise eingerichtet wird, die dann geprüft und ediert werden könnten. Vielleicht ließe sich dort auch noch der leider fehlende Index der dargestellten Einrichtungen ermöglichen.
Insgesamt aber haben die Autoren mit immensem Fleiß ein nützliches Instrument vorgelegt, das einen staunenswerten Überblick über die religiösen Bildungsinstitutionen in der DDR erlaubt.