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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

432–435

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gailus, Manfred, u. Clemens Vollnhals [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel.

Verlag:

Göttingen: V & R Unipress 2019. 276 S. = Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 79. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-8471-0996-9.

Rezensent:

Michael Tilly

Gerhard Kittel (1888–1948), der renommierte Herausgeber der zwischen 1933 und 1942 erschienenen ersten vier Bände des – noch immer populären – »Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Tes­tament«, verfasste zum einen zahlreiche beachtenswerte religionsgeschichtliche und theologische Beiträge zum frühen Christentum und seiner jüdischen Kontextualisierung und polemisierte in seinen Schriften zum anderen gegen das »antike Weltjudentum« als biologisch-anthropologische Größe. Im Hinblick auf die »Ju­denfrage« trat der bekennende Lutheraner für eine Politik der Apartheid ein; eine klare Abgrenzung von der nationalsozialistischen Rassenideologie unterblieb. Der vorliegende Sammelband enthält die Beiträge eines im November 2017 am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden veranstalteten Workshops über die Biographie, Karriere, Schriften und Netzwerke des einflussreichen Tübinger Neutestamentlers.
In ihrer Einführung (7–18) umreißen die beiden Herausgeber sowohl die Kontexte des Werdens und Wirkens Kittels als auch deren unterschiedliche Wahrnehmungen und Bewertungen in jüngeren und aktuellen Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte und zur Antisemitismusforschung. Anders als in manchen biographischen Darstellungen, die seine Verstrickung in das national-sozialistische Unrechtsregime entweder relativieren oder gar vollends ausblenden, wird Kittel dabei durchweg nicht von der Verantwortung für sein Handeln freigesprochen: »Christlicher Glaube (und das heißt im konkreten Fall Kittel: seine religiöse Interpretation des Neuen Testaments als das ›antijüdischste Buch‹ der Weltgeschichte) und seine biografisch langfristig angelegte national-völkische Gesinnung mischten sich zu einer geistigen Gemengelage, die sich für ihn im Kontext der ›deutschen Katastrophe‹ des 20. Jahrhunderts als persönlich verhängnisvoll erwies« (18). Einführenden Charakter hat auch Robert P. Ericksens Beitrag (19–41), der auf seine eigene, bereits über vier Jahrzehnte andauende, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Mittäterschaft Kittels an der Judenverfolgung der Nazis zurückblickt und dabei nicht nur nachweist, dass der Tübinger Theologe bereits vor 1933 nationalistische und antisemitische Ideen vertrat, sondern auch ausführlich die spätere wissenschaftliche Kontroverse zwischen Martin Rese und Leonore Siegele-Wenschkewitz referiert. Gerade die soliden Beiträge der früh verstorbenen kritischen Kirchenhistorikerin zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der frühen Verstrickung Kittels in das bis 1945 andauernde Terrorregime über Juden und Nichtjuden verdienten seines Erachtens eine höhere Wertschätzung. Insgesamt sei festzuhalten: »Kittel war bereit und bestrebt, seine Karriere im nationalsozialistischen Zeitgeist zu verfolgen.« (39)
In seinem Beitrag zum zeitgenössischen kirchlichen Kontext des Wirkens Kittels beleuchtet Clemens Vollnhals (43–61) nationalprotestantische Traditionen im deutschen Protestantismus seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, welche auch von zahlreichen evangelischen Christen in geradezu euphorischer Weise als »Aufbruch in eine bessere Zukunft« begrüßt wurde (58). Bis 1945 sei in den deutschen evangelischen Kirchen eine »grundsätzliche politische Loyalität zum NS-Staat als einer legitimen Obrigkeit« als prägend zu betrachten. Gerhard Lindemann (63-82) widmet sich Kittels familiärer Herkunft, Ausbildung und wissenschaftlicher Frühzeit. Zur Sprache kommen dabei die Prägung durch seinen Vater, den prominenten Alttestamentler Rudolf Kittel (1853–1929), seine schulische und akademische Ausbildung, seine Kriegserfahrungen, seine Leitungstätigkeit im Leipziger kirchlichen Religionslehrer-Seminar und seine ambivalente Sicht auf das Judentum bis zum Beginn der 1930er Jahre, die unbeschadet seines Bestrebens nach einer vergleichenden Untersuchung frühchristlicher und rabbinischer Texte von einer malignen Abwertung des sogenannten »modernen Judentums« und der Akzeptanz rassistischer Deutungsmuster geprägt sei. Horst Junginger (83–100) zeichnet die Karriere Kittels im Fahrwasser der nationalsozialistischen Judenpolitik nach, die in seine Wahrnehmung als einflussreicher »Spiritus Rector einer antisemitischen ›Judenwissenschaft‹« mündete (86). In seiner Nachkriegsverteidigung behauptete das engagierte Mitglied des wissenschaftlichen Sachverständigenbeirats der Forschungsabteilung »Judenfrage« des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands indes, dass man seine dezidiert judenfeindlichen Studien als einen »Akt des Widerstandes« gegen den neopaganen Vulgärantisemitismus zu bewerten habe (97).
In Martin Leutzschs Beitrag (101–118) geht es um Antijudaismus und Antisemitismus im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament«, das Kittel bis zu seinem Tod herausgab. Auf der Grundlage der wegweisenden Untersuchungen von Karlheinz Müller und Johan S. Vos zeigt Leutzsch auf, dass zwar keinesfalls davon die Rede sein könne, dass das ThWNT vom Antisemitismus durchdrungen ist, dass aber mittels der – das Wörterbuch durchweg prägenden – Suche nach innovativen, spezifisch christlichen Bedeutungsgehalten und Verwendungen griechischer Wörter als Belege für die »Besonderheit« des Neuen Testaments insgesamt ein christliches Überlegenheitsnarrativ entfaltet werde. Zugleich be­gründe die Deklassierung sämtlicher (nicht selten in anachronis-tischer Weise als »zeitgenössisches« Vergleichsmaterial herangezogener) nichtchristlicher Quellen eine Differenzkonstruktion bzw. eine Abwertung insbesondere des nachbiblischen und rabbinischen Judentums gegenüber der frühchristlichen Religion, welche sich gegenüber der jüdischen Frömmigkeit angeblich durch eine i ntimere Gottesbeziehung, durch eine universale Nächstenliebe und durch eine intensivere Zuwendung zu unterprivilegierten Gruppen auszeichne: »Es ist dieser strukturelle moderne christliche Antijudaismus, der das ThWNT insgesamt als philologisches Instrument unbrauchbar macht.« (113) Oliver Arnhold (119–134) fragt nach den Verbindungen Kittels und seiner Schüler zu dem am 6. Mai 1939 auf der Wartburg bei Eisenach gegründeten »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. Während der Tübinger Neutestamentler selbst nicht daran dachte, im Eisenacher »Entjudungsinstitut« mitzuarbeiten, und sich sowohl gegen die Streichung des Alten Testaments aus dem verbindlichen kirchlichen Kanon als auch gegen einen selektiven Umgang mit den neutestamentlichen Schriften aussprach, versuchten insbesondere seine Eleven Walter Grundmann und Johann Leipoldt, das frühe Christentum aus seinem jüdischen Entstehungskontext herauszulösen.
Der Beitrag von Lukas Bormann (135–160), der sich intensiv mit Kittels wissenschaftlichen Auslandsbeziehungen und der internationalen Rezeption seiner Werke befasst, enthält neben zahlreichen informativen Einzelheiten auch eine ganze Reihe lesenswerter Ausführungen zu hermeneutischen und methodischen Aspekten des wissenschaftlichen Umgangs mit biographischen »Erinnerungen«. Manfred Gailus (161–182) nimmt sodann Kittels (jüngst von Matthias Morgenstern [Wiesbaden 2019] kritisch edierte) Rechtfertigungsschrift »Meine Verteidigung« vom Dezember 1946 in den Blick, in der der kompromittierte »Judentumsforscher« wortreich die beiden Schlüsselsätze »Ich war nicht wirklich mit dabei« und »Ich war eigentlich dagegen« variiert (181). Gailus merkt abschließend an, dass es in Kittels Apologie eigentlich nicht nur um seine eigene Verteidigung ging, sondern »viel grundsätzlicher um ›Unsere Verteidigung‹, in der Spitzenvertreter beider großen christlichen Konfessionen sich selbst, ihre tradierte antijudaistische Theologie, ihren religiösen Glauben, nicht zuletzt ihr Handeln im ›Dritten Reich‹ und damit die Unschuld und ungebrochene Legitimität eines christlichen theologischen Antijudaismus im 20. Jahrhundert verteidigten« (182). Zwei Anhänge enthalten Kittels im Dezember 1941 verfasstes Gutachten für den geplanten Prozess gegen Her schel Grynszpan vor dem Volksgerichtshof 1942 (185–194) und einen Abschnitt aus seiner Verteidigungsschrift (195–202). Beigegeben sind ein biographischer Abriss (203–258) und ein umfangreiches Verzeichnis der Publikationen Kittels (259–267).
Die Beiträge des Sammelbandes beleuchten wichtige Aspekte des Lebenswegs und der Karriere eines weltweit bekannten Tübinger Gelehrten, in dessen Schriften traditioneller christlicher Antijudaismus und völkischer Antisemitismus in unheilvoller Weise miteinander verschmolzen. Die Darstellungen sämtlicher Autoren sind durchweg quellenfundiert, sachorientiert und kritisch, ohne dabei je Gefahr zu laufen, Kittels tiefe und aktive Verstrickung in Wort und Tat ad bonam partem oder ad malam partem zu verzeichnen.