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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

431–432

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Fitschen, Klaus

Titel/Untertitel:

Liebe zwischen Männern? Der deutsche Protestantismus und das Thema Homosexualität.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 221 S. = Christentum und Zeitgeschichte, 3. Kart. EUR 18,00. ISBN 978-3-374-05588-3.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Der deutsche Protestantismus stellt als eine Wesenseigentümlichkeit gern heraus, eine Theologie und Frömmigkeitspraxis zu vertreten, die Entwicklungen der Moderne mitgestaltet, indem sie gesellschaftliche Transformationen konstruktiv verarbeiten. Das ist in mancher Hinsicht der Fall. Allerdings, das wird in der Geschichte der kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Homosexualität deutlich, die der Leipziger Kirchengeschichtler Klaus Fitschen nachzeichnet, hinkt die kirchliche Positionierung in diesem Themenbereich der Zeitgeschichte hinterher. Der theologische An­spruch, bei Fragen der Sexualität und der Lebensformen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört zu werden, ist dadurch obsolet geworden. Denn die kulturellen Prozesse und die damit verbundene Veränderung der Gesetzgebung sind dem innerkirchlichen Streit vorausgeeilt und über ihn hinweggegangen. Während sich in den kirchlichen Stellungnahmen die Argumente bei jeder Liberalisierung der Gesetzeslage weitgehend glichen und ebenso die Positionen und Austrittsdrohungen der Stimmen evangelikaler Frömmigkeit starr blieben, wurde in den dominierenden Bereichen der Wissenschaft, der Öffentlichkeit sowie in den privaten Beziehungen Homosexualität immer unangefochtener als eine selbstverständlicher Realität anerkannt. »Als die ›Ehe für alle‹ 2017 Gesetz wurde, wiederholten sich zwar die Debatten noch einmal, was die Exklusivität der heterosexuellen Ehe anging, die Kirche konnte aber auch hier nur noch kommentieren. Die Zeiten waren längst vorbei, in denen der Gesetzgeber […] die Kirche wenigstens hören wollte.« (193) So resümiert F. gegen Ende seiner Aufarbeitung der Debatten, die sich – mit Rück- und Vorblicken – auf die Spanne zwischen dem Ende der 1970er Jahre bis zum Jahr 2001 (Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes) konzentriert.
Das Buch – entsprechend dem Profil der Reihe ohne Anmerkungen, aber mit einem Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur im Anhang – will keine sexualethische oder theologische Ab­handlung sein, sondern bietet eine zeithistorische Perspektive. Damit füllt es eine Forschungslücke. Denn ethische und (bib­lisch-) theologische Veröffentlichungen zum Thema sind vorhanden. F. hingegen verfolgt die historischen Entwicklungen an exemplarischen Prozessen. Dabei bezieht er die Vorgänge in der DDR ein, in der § 175 StGB zwar deutlich früher abgeschafft wurde als in der Bundesrepublik insgesamt, aber das Thema der Homosexualität gleichwohl tabuisiert war.
Vorgänge und Argumente, die allenfalls den Älteren noch in der Gestalt von Namen im Zusammenhang mit »Fällen« – Klaus Brinker in der Hannoverschen Landeskirche oder Eduard Stapel in der Kirchenprovinz Sachsen – bzw. als Titel von kirchlichen Verlautbarungen – »Mit Spannungen leben« – im Gedächtnis sein mögen, werden in dem Buch differenziert rekonstruiert. Exemplarisch stehen die Entwicklungen in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens für eine konservativ dominierte kirchliche Debatte, die der Rheinischen Kirche hingegen für eine liberal bestimmte. Im Verlauf der Darstellung mit ihren vielen Einzelheiten wird deutlich, wie sehr sich die Argumentationsfiguren durch die Jahrzehnte hindurch gleichen und wie mühsam sie sich verändern: Immer wieder geht es um die Leitbildfunktion der heterosexuellen Ehe. Anhaltend wird die Sorge um den kulturellen Zerfall der Gesellschaft durch Homosexualität artikuliert bzw. die drohende Verführung von Kindern und Jugendlichen durch homosexuelle Pfarrer oder Jugendarbeiter beschworen. Erst langsam verwandelt sich der Blick auf Homosexualität als eine in der Realität vorhandene Form der Liebe, die weder als Sünde verdammt noch therapeutisch behandelt oder seelsorglich begleitet werden muss. Bewegt hat sich vor allem etwas durch den Mut der homosexuellen Menschen, die ihr Recht eingefordert ha­ben, und durch eine Praxis, in der Segnungen homosexueller Paare auch ohne kirchenleitende Genehmigung vollzogen wurden bzw. homosexuelle Pfarrer durch ihre Gemeinden Unterstützung darin fanden, mit ihren Partnern im Pfarrhaus zu leben statt im aufgezwungenen Zölibat.
Das Thema der lesbischen Frauen wird immer wieder eingespielt, bleibt allerdings eher am Rand, wie es auch der Titel des Buches schon markiert. F. begründet dies mit der auffallenden Tatsache, dass die Homosexualität von Frauen sowohl in der rechtlichen Sanktionierung als auch in den kirchlichen Debatten kaum erwähnt wird. Warum dies so ist, wäre wohl eine eigene Abhandlung wert.
Insgesamt legt F. eine wichtige und historisch sorgfältige Rekonstruktion einer mühsamen kirchlich-theologischen Debatte vor, ohne die eigene Position dabei zu verbergen.