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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

425–427

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Halama, Jindřich

Titel/Untertitel:

Die Soziallehre der Böhmischen Brüder 1464–1618. Zum unerledigten Dialog der böhmischen Reformation mit der lutherischen und calvinistischen. Aus d. Tschechischen übers., quellenkundlich aufbereitet u. m. erweiterten u. zusätzlichen Fußnoten, Verweisen u. Exkursen sowie Listen, Registern u. Bildanhang vers. v. K.-E. Langerfeld.

Verlag:

Herrnhut: Herrnhuter Verlag 2017. X, 542 S. m. Abb. = Unitas Fratrum, Beiheft 27. Kart. EUR 24,00. 978-3-931956-50-9.

Rezensent:

Manfred Richter

Diese Veröffentlichung ist eine erstaunliche Leistung, die zunächst dem Übersetzer und ergänzenden Co-Autor Karl-Eugen Langerfeld zu danken ist. Dies gilt zunächst schon von der sprachlichen Seite, die er, von Herrnhut her vertraut mit der nicht nur geographisch benachbarten, sondern ideell seiner Kirche so eng verbundenen tschechischen Sprache, zu meistern verstand. Berichtigungen und ergänzende Hinweise für den deutschsprachigen Leser fügte er dem Text selber bei (Errata sind gesondert ausgewiesen, Druckfehler in meinem Exemplar handschriftlich korrigiert). Eine wertvolle Hilfe ist, dass er umfänglich Begriffe, ja Formelkomplexe in der Ursprache beigibt, mit * markiert in einem zweiten Fußnotensys-tem.
Beigefügt sind umfangreiche Listen und Register, die ab S. 371 ein Drittel der deutschen Ausgabe ausmachen, sowie ein Bildanhang ab S. 495. Hier kann der mit der Geschichte der Böhmischen Brüder weniger Vertraute sich durch ein Lexikon (Kapitel 8) »brüderischer Begriffe« und der Abfolge von Leitungsfiguren orientieren. In den Kapiteln 11–13 findet sich ein »Konvokationen«-Register (für Formen beschließender Zusammenkünfte) sowie eines für Personen und Orte. Die Zeittafel (Kapitel 14) geht über eine knappe Chronologie hinaus, indem sie Reformbestrebungen und Forschungsansätze einbezieht. Und während schon in Kapitel 9 und 10 Auskünfte zu Quellen und Literatur gegeben sind, erfolgt in 14,6 ein Nachtrag zu Publikationen seit 2002. Im Vorwort wird der Dank an Vorgänger im Brüderarchiv und den Bibliographen der Deutschen Comeniusgesellschaft, Ulrich Schäfer, ausgesprochen. Angefügt ist ein der tschechischen Ausgabe entnommenes Summary (479 ff.).
Der Autor Jindřich Halama, geb. 1952 in Prag, hat sich mit dieser Studie habilitiert und ist Inhaber eines Lehrstuhls an der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät. Er stellt fest, die Soziallehre der Böhmischen Brüder sei »ein bislang nicht systematisch bearbeitetes Thema«. Er sieht dies begründet schon durch den beschwerlichen Zugang zu Quellen, denen weithin moderne Ausgaben mangelten. Sodann sei in der Fachwelt die Meinung verbreitet gewesen, »die Brüder seien eine nahezu völlig pragmatische Gemeinschaft gewesen«, quasi theorielos, was noch Josef Smolík 1948 vertrat in der einzigen einschlägigen tschechischen Darstellung. Dieser schrieb bewusst nur über das »soziale Wirken« der Brüder. Erst Amadeo Molnár wies auf die Eigenständigkeit der brüderischen Theologie hin einschließlich der Kette von Äußerungen zu sozialen Grundsätzen wie der vielfachen Zprávy = Anweisungen und Naučení = Belehrungen. Auch der bemerkenswerte Sprach-gebrauch für »Gottesdienst« mit dem Ausdruck Služba Bohu v bližních = »Gott-im-Nächsten-Dienen« verweist ja sogleich auf die soziale Dimension. So stellt sich H. die Frage, ob die Belege gestatten, von einer Soziallehre zu sprechen. Dies habe »ohne Skrupel« bislang einzig Peter Brock getan, der diese wie ursprünglich bereits um 1500 bei Lukas von Prag als erledigt ansieht. H. will stattdessen die hierbei vorausgesetzte Auffassung der frühen Unität ebenso korrigieren, wie er der Bewertung der späteren als »Niedergang« widerspricht. Sein Ziel ist, die Kontinuität der Böhmischen Brüder über die ganze Zeit ihres Bestehens aufzuweisen. Diese beendet er freilich mit 1618, während andere Studien regelmäßig bereits im 16. Jh. endeten: bei der Begegnung mit den lutherischen und reformierten Reformationen.
Die Darstellung erfolgt in vier Abschnitten gemäß vier unterstellten Hauptperioden: Nach der Anfangszeit (Kapitel 2), wobei die Ursprünge in der hussitischen Taborbewegung und die ursprüngliche Nähe zu Petr Chelčický betont werden, folgt in Kapitel 3 unter dem Titel »Von radikaler Verweigerung zu kritischer Verantwortung« »Die Unität unter Bruder Lukas (1490–1528)«. Kapitel 4 handelt von den »Auseinandersetzungen mit den Einflüssen der europäischen Reformation und dem Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung in Böhmen – Von Lukas’ Tod bis zur Böhmischen Konfession (1528–1575)«. Kapitel 5 stellt die Phase von der Böhmischen Konfession bis zum Dreißigjährigen Krieg (1575–1618) unter die Frage »Kirche als Teil der Gesellschaft?«. Abschließend gibt Kapitel 6 eine Zusammenfassung der »charakteristischen Kennzeichen der brüderischen Soziallehre« und erörtert deren Position im europäisch-reformatorischen Kontext, einschließlich der durch die Legalisierung (!) heraufbeschworenen Identitätskrise: »Ecclesia semper persequenda?« Kapitel 7 gibt eine Beilage zur Textausgabe einer Mahnschrift, Napomenutí, wieder, verfasst im Nachgang zu der auch die böhmischen Brüder treffenden Niederlage der deutschen Lutheraner im Schmalkaldischen Krieg.
Auf die Einzelentwicklungen während der jahrhundertelangen Verfolgungssituation kann nicht eingegangen werden. Endlich herrschte in Mähren ab 1608 vom ungarischen König Matthias geduldet Religionsfreiheit, ab 1609 auch in Böhmen durch den Majestätsbrief Rudolfs I. »wodurch die Brüder zusammen mit den Utraquisten Bestandteil einer offiziell anerkannten ›Kirche unter beiderlei Gestalt‹ wurden« (254). Die ersehnte Freiheit währte kurz – nur bis zur Schlacht am Weißen Berg 1618. Und gerade die Legalisierung hatte in eine innere Krise geführt, stellt H. fest: Gemeint ist nicht die politische Niederlage, sondern das Abnehmen geistlichen Interesses seither. Calvinistische Elemente wurden neuerdings in eine Neuausgabe der brüderischen Confessio von 1564 eingefügt, die der Obrigkeit eine »schützende Hand über die Glaubenden« zugestehen. Dies nun »widerspricht ganz und gar der bisherigen brüderischen Linie« (262). Eid unter Anrufung Gottes kann aber jetzt legitim sein, und Verteidigung gegen Überfälle zum Selbstschutz ebenso. Das gilt auch für Konečný, der – besonders etwa in seinem Hausprediger (1618) – auf die Einhaltung der Vorschriften für gewerbliche Betätigung Wert legt und Luxusberufe wie Goldschmiede nicht zulässt. Bildung wird zunehmend als wichtig er­achtet, doch erst von Comenius fundamental begründet.
Aber Comenius’ Soziallehre will H. nicht mehr einbeziehen. Er hält sie »nicht für einen integralen Bestandteil der brüderischen Lehre«. So lässt er mit dem »Hausprediger« die Darlegung ihrer Soziallehre beendet sein. So sehr sein Werk »aus Tradition und Lehre der Unität erwachsen« sei, und »obwohl er viele brüderische Standpunkte durchdenkt und entfaltet, tut er es doch in einer Situation, in der die Gemeinschaft schon nicht mehr existiert« (259 f.). Das ist jedoch kontrafaktisch zumindest für Polen, aber auch für die brüderischen Untergrundkirchen, die dann Comenius-Werke im Exilgepäck mitschleppten. Und auch wenn des Comenius Arbeit »abwechselnd würdigende Retrospektive und eigenständiges Anknüpfen an die brüderische Tradition« sei, sei sie kein »integraler« Bestandteil brüderischer Lehre. Für dessen Verständnis aber sind die pragmatischeren Lehrformeln seiner Vorgänger durchaus erhellend. Sie lassen die bewundernswerte theologisch-systematische Leistung dieses Brüder-Bischofs, nach H. im Posthistoire seiner Kirche, nur umso höher achten. Gerade sie wird heute ökumenisch entdeckt als von nunmehr universaler Bedeutung: nun gleichsam im Posthistoire des konfessionellen Zeitalters.