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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

388–390

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, Matern, Harald, u. Jens Köhrsen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Krise der Zukunft II. Verantwortung und Freiheit angesichts apokalyptischer Szenarien.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich (Pano-Verlag); Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2018. 236 S. = Religion – Wirtschaft – Politik, 16. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-22035-8 (Pano); 978-3-8487-3404-7 (Nomos).

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Das Buch versammelt Beiträge einer interdisziplinären Tagung zum Thema »Das Spiel ist aus? Verantwortung und Zukunft angesichts apokalyptischer Zukunftsszenarien« vom November 2015 an der Universität Basel (Schweiz). Die Drucklegung der Tagungsbeiträge hat sich offensichtlich verzögert, das Thema ist jedoch durch die »Fridays for Future«-Bewegung um die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg noch aktueller geworden. Angesichts der religionsgeschichtlichen Herkunft der Apokalyptik und in Würdigung der gegenwärtigen Diskurse besteht ein besonderes Interesse an der theologischen Deutung säkularer Krisenwahrnehmung und Endzeitkonstruktion. Gibt es so etwas wie eine »Theology for Future«? Die instruktive Einleitung der drei Herausgeber unterstreicht die hohe Relevanz dieser Fragerichtung.
Der dogmen- und theologiegeschichtlich angelegte Beitrag von Stephan Jütte »Die Hölle fürchten« bietet einen knappen Überblick über die Entstehung und Bedeutung der christlichen Vorstellung einer ewigen Höllenstrafe, deren existenzielle Wucht freilich durch die Lehre vom reinigenden Feuer im Purgatorium gemäßigt und existenziell tragfähig gemacht wird. Die Reformatoren haben mit ihrer rechtfertigungstheologischen Kritik am Fegefeuer den dualen Ausgang der Ewigkeitserwartung betont. »Die Hölle wurde wieder voll.« (29) Diese Radikalisierung steht freilich im strukturellen Widerspruch zum reformatorisch interpretierten Gottesbild, weswegen die neuzeitliche Theologie den schroffen Dualismus dann verabschiedet hat: Nun ist »[d]ie Hölle […] verschwunden, der Himmel steht sehr weit offen« (30). Jütte hält sich zurück mit Bezügen zum übergeordneten Thema. Es gibt einen unvermittelt eingeführten und knappen Bezug zum rechtswissenschaftlichen Diskurs über die präventive Wirkung von Strafandrohung und zum widersprüchlichen Umgang mit dem Klimawandel (vgl. 27 f.). Auch die auswertenden Andeutungen im Epilog greifen kurz: »Es ist gut, dass wir keine Hölle und keinen ewig zürnenden sadistischen Übervater mehr fürchten« (31). Die für das Thema des Buches entscheidende Frage, ob die Reformatoren selbst den Keim für die Säkularisierung der Eschatologie gesät haben, stellt Jütte indes nicht.
Komplementär zu diesem Beitrag untersucht Harald Matern die andere Seite der Eschatologie. Unter dem Titel »Auf den Himmel hoffen. Zu ethischen Implikationen der christlichen Zukunftshoffnung« fokussiert er insbesondere die Ethisierung der christ-lichen Eschatologie im Neuprotestantismus. Hier sind es in der Gegenwart die Entwürfe von Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg, die Matern eng beieinander sieht: »Hoffnung ist, folgt man beiden Autoren, ein inhaltlich qualifiziertes Differenzbewusstsein. Für die Spezifizierung der inhaltlichen Qualifizierung wird die Einbildungskraft herangezogen, die aus sicher geglaubtem Wissen um Vergangenes eine Zukunft konstruiert, die als Möglichkeit der Gegenwart handlungsleitende Kraft für die Hoffenden hat. Externe Kriterien für die Überprüfung dieser Inhalte werden unterschiedlich bewertet.« (41) Dadurch ergibt sich bei Moltmann ein eher progressiver, bei Pannenberg ein biblisch-konservativer Zug der Theologie. Die Intention dieser Entwürfe, die gegenwärtige Welt durch Betonung der Eschatologie ethisch ernst zu nehmen, erkennt Matern auch bei Paul Tillich, der aber einen anderen Weg geht, den er knapp und mit Sympathie skizziert. Allerdings seien auch bei Tillich die inhaltlichen Konkretisierungen eher »Extrapolationen des Diesseitigen« (43). Matern schlägt daher vor, eher alltagsferne eschatologische Bilder wie »[d]as ›neue Jerusalem‹ […], die ›Hure Babylon‹, der ›Schwefelsee‹ oder auch die Cherubim vor Gottes Thron« (44) zu verwenden, um einen – freilich indirekten – (meta-)ethischen Orientierungssinn aus ihnen abzuleiten. »Der Mehrwert einer religiös informierten Zukunftshoffnung könnte darin bestehen, den irrationalen Kern unserer ethischen Leitvorstellungen nicht als vollständig rationalisierbar ver kaufen zu müssen.« (Ebd.) Die Bedeutung der symbolischen Traditionen könne darin bestehen, die handlungssinntranszendente Notwendigkeit der Antizipation von Gelingen und ihre bloß nachträglich mögliche Rationalisierbarkeit freizulegen und »einer kritischen Analyse zuzuführen« (ebd.). Für Matern besteht der Ertrag der neuzeitlichen Theologiegeschichte darin, den Himmel entleert zu haben. Das ist zugleich die Voraussetzung seiner bleibenden Funktion von Irritation und Kritik von Totalitarismen und Fanatismen jeder Art.
Jens Köhrsen analysiert am Beispiel der Kirchengemeinden in der Stadt Emden die in der religionswissenschaftlichen Forschung theoretisch als hoch eingeschätzten Beiträge religiöser Akteure bei der Umgestaltung moderner Gesellschaften entlang den Prinzipien ökologischer Nachhaltigkeit. Nach Erläuterung des Forschungsstandes, seines Forschungsdesigns und der von ihm angewendeten qualitativen Methoden muss Köhrsen im Ergebnis seine im Titel »Auf dem Weg zur grünen Religion? Kirchen und die ökologische Krise am Beispiel der Energiewende« gestellte Frage klar verneinen, denn die drei untersuchten Kirchengemeinden partizipierten an der lokalen Umsetzung der Energiewende »nur marginal« (63). Freilich kann er dieses Resultat im Rekurs auf religionssoziologische Einsichten von Jörg Stolz relativieren und daraus die Prognose ableiten, dass im Rahmen eines sozialen Settings, in dem sich andere Akteure des ökologischen Themas nicht annähmen, die Kirchengemeinden eine gleichsam exemplarische Vorreiterrolle übernehmen würden, wie zahlreiche andere Beispiele zeigten. Beim ökologischen Thema wird die grundsätzlich »gesellschaftstransformierende Rolle von Religion« (66) nur dann wahrgenommen, wenn sie keine (oder nur wenig) Konkurrenz hat. Diesem Beitrag fehlt es ganz an Bezügen auf die Dimension der Krise, die von den hier untersuchten religiösen Akteuren offensichtlich nicht als handlungsleitender Impuls verstanden wurde.
Dagegen nimmt Regina Betz in ihrem Beitrag »Religion und Treibhausgasemissionen: Potenziale religiöser Gemeinschaften im Klimaschutz« direkt auf das Rahmenthema Bezug, indem sie eingangs das apokalyptische Potential rein quantitativ vorgehender Beschreibungen des Klimawandels herausarbeitet. Im materialen Teil berechnet sie durch komplexe Auswertung vorliegender Da­tenbanken die CO2-Emissionen der religiösen Gruppierungen weltweit, mit dem überraschenden Ergebnis, dass 42 % von christlichen Glaubensgruppen ausgestoßen werden (Katholiken stellen mit 16 % den höchsten Anteil an den Gesamtemissionen, Protes-tanten kommen auf 7 %), gefolgt von Muslimen (14 %), Buddhisten und chinesischen Volksreligionen (je 9 %). Den höchsten Pro-Kopf-A usstoß haben Juden (10 t) und Shintoisten (9 t), was mit den Hauptverbreitungsgebieten (USA, Israel und Japan) zusammenhängt. In ihren Deklarationen nehmen fast alle Religionen zu-­gunsten klimapolitischer Maßnahmen und Veränderungen im Le­bensstil Stellung, lediglich im evangelikalen Protestantismus in den USA und in Australien verbindet sich die Kritik an den modernen Naturwissenschaften mit einer Ablehnung der androgenen Ursachen des Klimawandels, dessen Symptome religiös-apokalyptisch gedeutet werden. Betz kommt zu dem Ergebnis, dass die Religionsgemeinschaften wichtige Akteure bei der Schärfung der so­zialen und politischen Sensibilität sein können. Zugleich sollte die »Lenkungswirksamkeit der Deklarationen und Aktivitäten religiöser Gruppierungen […] nicht überschätzt werden« (95), weil in den Religionen die auf das Individuum bezogenen Heilsziele Priorität genießen.
Die anderen Beiträge geben Einblick in die Entdeckung und Wahrnehmung von ethischer Verantwortung in wichtigen Sphären des modernen Lebens. So plädiert die Ökonomin Ekaterina Svetlova angesichts der Komplexität der modernen Finanzwirtschaft mit sehr nachvollziehbaren Gründen für eine »Ethik des Nichtwissens«.
Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Patrick Kupper macht an zwei Fallbeispielen deutlich, wie sich das auf die Zukunft gerichtete Denken in Katastrophen angesichts der ökologischen Krise in den 1970er Jahren epochal verschiebt. Insbesondere löst die »schleichende die jähe Katastrophe ab […]. Für die Krisen- und Katastrophendiskurse ist diese Prägung seither leitend geblieben« (137).
Unterschiedliche Formen von Chronopolitiken, mit denen in der Gegenwart auf prognostizierte Katastrophen reagiert wird, vergleicht der Publizist Mario Kaiser und lotet in seinem umfangreichen Essay die Chancen einer von ihm als »Moration« bezeichneten Politik des Zögerns aus, deren Mehrwert er vor allem in dem dadurch ermöglichten Reflexionsgewinn sieht. Der Rechtswissenschaftler Felix Hafner legt eine dominant verfassungsgeschichtliche Interpretation der Formel »Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen« in der Schweizer Bundesverfassung vor.
Der Politikwissenschaftler Manfred Brocker widerlegt Hans Jonas’ bekannte These, nach der es eine moralische Pflicht gebe, die Menschheit zu erhalten, und präsentiert stattdessen einen exemplarischen Katalog für eine politisch-institutionelle Wahrnehmung von Verantwortung, »um eine zukunftsorientierte Politik für die heute Lebenden sicherzustellen und zu befördern. Denn es sind ausschließlich die heute Lebenden, denen Rechte zukommen, und deren berechtigte Interessen zu schützen sind.« (201) Den aus den Krisen- und Untergangszenarien abgeleiteten moralischen Hochdruck will er auf diese Weise abbauen und durch die Tugend der politischen Klugheit ersetzen.
Das Buch schließt mit einem düsteren Essay des Philosophen Andreas Brenner, der die widersprüchliche Lebenshaltung »des be­tuchten Achtels der Menschheit« (220) für das Katastrophenszenario verantwortlich macht, dem die Menschheit insgesamt nicht entgehen wird.
Jeder der hier versammelten Beiträge ist instruktiv und lehrreich. Der jeweilige Bezug zum Rahmenthema bleibt indes lose und hochgradig individuell. Möglicherweise ist das ein weiteres Symptom jener Krise, die in diesem Buch vieldimensional beschrieben wird.