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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

348–350

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Das Gebet.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XVI, 435 S. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-16-154554-2.

Rezensent:

Alexander Deeg

Der Bonner Praktische Theologe und Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck legt gut einhundert Jahre nach Friedrich Heilers monumentaler Studie »Das Gebet« ein Werk mit demselben Titel vor. Es ist ein kühnes Unterfangen, ein Buch über das Gebet zu schreiben, denn dies bedeutet notwendig und im wahrsten Sinn des Wortes, ein Buch über »Gott und die Welt« zu verfassen – und darüber, wie »Gott« und »die Welt« miteinander ins Gespräch kommen.
M.-B. ist sich dieser Kühnheit bewusst, nimmt sie in Kauf – und meistert sie bravourös. Es ist ein »großes« Buch, das M.-B. kurz vor seiner Emeritierung vorlegt; ein Buch, das Standards setzt und zeigt, wie lebendig und herausfordernd Theologie ist, wenn je­mand wagt, empirische Wahrnehmungen, geschichtliche, kulturelle, philosophische und psychologische Erkundungen, biblische und systematisch-theologische Perspektiven mit praktisch-theologischen Fragestellungen zu verbinden – und dabei nicht nur präzise darstellt und pointiert formuliert, sondern sich auch klar und gut begründet selbst positioniert. M.-B. legt ein »Lehrbuch« vor, bietet aber weit mehr als eine Übersicht grundlegender Positionen und eine Darstellung wesentlicher Sachverhalte zum Gebet (das leistet das Buch schon auch!). Es ist ein Buch, das lehrt, wie Theologie getrieben werden kann, wenn sie nicht in einzelnen disziplinären Grenzen verbleibt, sondern Vernetzungen und Verknüpfungen wagt.
Wollte man ein Lehrbuch zum Gebet langweilig anlegen, dann könnte man sich einer TRE-Systematik bedienen und alt- und neutestamentliche Einsichten, Geschichtliches, Systematisches und am Ende Praktisches zusammentragen. M.-B. hingegen geht einen anderen Weg und setzt mit einem Kapitel zu »Prolegomena. Grundlegende Kategorien einer evangelischen Lehre vom Gebet« (1–57) ein. Darauf folgt ein weiter Blick auf Phänomene des Gebets und auf die »Vielfalt gegenwärtiger Gebetspraxis« (59–139). Erst auf diesem Hintergrund bietet das Werk »Historische Vergewisserungen« (141–196, wobei aufgrund der Quellenlage hier vor allem das liturgische Gebet, weniger das individuelle in den Blick kommen kann) und eine bisherige Überlegungen zusammenführende »Evangelische Lehre vom Gebet« (197–302, wobei M.-B. »evangelisch« durchaus in ökumenischer Weite versteht), die im fünften Kapitel in Perspektiven zur »Praxis evangelischen Betens« mündet (303–411).
Innerhalb dieser Hauptkapitel ist das Buch in 40 Paragraphen gegliedert, deren logische Aufeinanderfolge sich nicht unbedingt beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis, aber durchaus im Kontext der Lektüre des Buches erschließt. Die Länge der Paragraphen bleibt durch das Buch hindurch gleich (sieben bis zehn Seiten) – und macht das Werk zu einer hervorragenden Lektürebasis für Seminare und Übungen. Dies umso mehr, als alle Paragraphen als kleine Essays gelesen werden können zu so unterschiedlichen Themen wie »Der Choral als Grundgestalt evangelischen Betens« (§ 9; 84–94), »Gebet und Gesundheit« (§ 13; 123–131), »Die Suche nach dem Gebet und das Gebet als Suche« (§ 23; 233–241), »Das Bittgebet und die Frage der Gebetserhörung« (§ 28; 276–290) oder »Das Gebet zu Christus« (§ 29; 281–302). Dass diese Essays sprachlich glänzend geschrieben sind, versteht sich bei einem Werk von M.-B. von selbst. Es gelingt ihm, bei aller Komplexität der Materie klar zu formulieren und hervorragend zu strukturieren. Auch die Zusammenfassungen am Ende jedes Paragraphen sowie die Randglossen helfen, das Gelesene zu überblicken. Das Buch wird durch Register zu Bibelstellen (417–422), Gesangbuchliedern (423 f.), Personen (425–431) und Sachen (432–435) erschlossen.
M.-B. bestimmt das Gebet als »Ernstfall der religiösen Praxis« (XV) und grundlegende religiöse Handlungsform, bei der »ein hörendes Gegenüber handelnd gesetzt wird« (5; vgl. auch 66, wo M.-B. treffend davon spricht, dass das Gebet nur in der »Grammatik der 2. Person« funktioniert) und der Mensch vor Gott aktiv wird, »um seine Passivität erfahren zu können« (12; vgl. 67). Immer wieder zeigt M.-B., wie das Gebet nur in Spannungsfeldern beschrieben werden kann: zwischen Freiheit und Abhängigkeit der Betenden, Selbstbezug und Selbsttranszendenz, zwischen Reflexion und Er-leben, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Reden und Schweigen, zwischen Suchen und Gefunden-Werden etc.
M.-B. äußert sich zum individuellen und zum liturgischen Gebet – und zu den vielfältigen Formen »dazwischen« (etwa zum Gebet im Kontext der Seelsorge). Er nimmt Probleme gegenwärtiger Gebetspraxis wahr (etwa die Scham aufgeklärter Menschen, sich vermeintlich regredierend an »Gott« zu wenden). Sehr überzeugend zeigt er auch, dass geistliche Berufe durch die Praxis des Gebets ihre Spezifik erhalten, wogegen alle anderen pastoralen Handlungsweisen auch in anderen Berufen vorkommen (vgl. 3; 48–57: »Beten als Beruf«; 316.330.352 u. ö.). Nach der Lektüre dieses Buches läge es nahe, eine (evangelische) Pastoraltheologie ausgehend von der Praxis des Gebets zu schreiben.
Die Liturgie versteht M.-B. insgesamt als »Gebet« (vgl. 39; 361–370), womit die Predigt als »die Unterbrechung des Betens im Kontext des Betens« (369) erscheint. Vielfältig sind die Beobachtungen zur gottesdienstlichen Gestalt des Gebets, für die M.-B. auch auf neueste Entwicklungen (z. B. die ausführlich dargestellte »Leichte Sprache«; 318–321) eingeht und insgesamt zutreffend erkennt: »Da die Zeit der geprägten agendarischen Sprache vorbei ist, wird die je eigene Sprache durch die – vermeintlich frei gewählte – Konvention bestimmt« (315).
Man kann es nicht besser machen, aber natürlich kann man sich als Leserin oder Leser dieses Standardwerks hier und da eine andere Schwerpunktsetzung vorstellen. Erstaunlich ist für mich, wie intensiv sich M.-B. auf vielen Seiten des Buches an der von Kant und anderen formulierten neuzeitlich-aufklärerischen Problematik des Ge­bets im Spannungsfeld von menschlicher bzw. göttlicher Autonomie und Freiheit abarbeitet. Bereits in § 3 wird dazu m. E. das Nötige gesagt: »Betend wird die Nicht-Autonomie in selbstgewählter, autonomer Form gesetzt« (25; vgl. dann auch 253–255); dennoch kehrt die Problemkonstellation beharrlich wieder. Und dies, obwohl M.-B. von der überaus beschränkten Bedeutung dieser Problemlage für gegenwärtige Gebetserfahrung und Gebetspraxis weiß, wie empirische Studien zeigen. »Die Interviews mit betenden Menschen zeigen eine andere Realität, als es das Gebetsideal im Gefolge […] Kants und der Aufklärung vorsieht« (311). Diese Einsicht hätte die Freiheit ge­ben können, auch andere Linien des Verständnisses von Gebet aufzunehmen (wie sie sich etwa im Gefolge von Franz Rosenzweig und bei stärker auf die Sprachlichkeit des Gebets fokussierten Überlegungen wie z. B. bei Heinrich Assel zeigen) bzw. andere Aspekte der gegenwärtigen Situation intensiver zu reflektieren – wie etwa die interreligiöse Herausforderung, den säkularen Kontext, die Erschöpfung des modernen Subjekts (vgl. 23 f.), das Scheitern Gottes in Auschwitz und die poetische Verabschiedung Gottes und seine Fortexistenz (vgl. Vera-Sabine Winkler zu Hilde Domin u. a.). Zu schnell ist M.-B. nach meinem Geschmack auch mit der Neueren Phänomenologie fertig (Hermann Schmitz wird in einem einzigen Satz abgehandelt und ›erledigt‹ [98]). Aber natürlich gehört auch das in diesem Absatz Kritisierte zur Stärke des Buches: dass hier nicht gleichsam flächig dargestellt, sondern argumentativ gewichtet und so perspektivisch Theologie getrieben wird. Der Semiotiker M.-B. nimmt die conditio moderna ernst und geht davon aus, dass der Mensch nie nur ›erlebt‹, sondern immer auch ›reflektiert‹ und ›deutet‹.
Immer wieder ist Schleiermacher ein geschätzter Gesprächspartner für diese Lehre des Gebets. M.-B. kritisiert bei ihm lediglich dessen »spirituelle Kühle« bei aller »philosophische[n] Klarheit« (191). Im Gefolge Schleiermachers wurde das Bittgebet von vielen Theologen im 19. Jh. als illegitimer Versuch menschlicher Einwirkung auf eine (wie auch immer gedachte) Gottheit abgelehnt. Mit Karl Barth (vgl. 204 f.) und vor allem mit Jesus als Lehrer des Gebets (vgl. zum Vaterunser 223–233) erkennt M.-B. das Bittgebet hingegen als Grundlage jeder Gebetspraxis (vgl. 276–290) und argumentiert gegen dessen neuzeitliche Ablehnung, indem er diese sehr scharfsinnig als eine Art negativen Anthropomorphismus charakterisiert oder als einen »Anthropomorphismus in antianthropomorpher Gestalt« (283).
Unzählige andere Einsichten, die ich hier nicht eigens aufführen kann, ermöglicht dieses herausragenden Standardwerk. Zu­dem führt das Lehrbuch nicht nur in ein vertieftes und gründliches Nachdenken über das Gebet, es macht auch Lust zum Beten. Das ist sicher nicht das erste Ziel eines wissenschaftlichen Werks, aber m. E. das Beste, was sich über ein theologisches Buch sagen lässt.