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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

323–325

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Vogler, Günter

Titel/Untertitel:

Müntzerbild und Müntzerforschung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Bd. 1: 1519–1789.

Verlag:

Berlin: Weidler Buchverlag 2019. 534 S. Kart. EUR 75,00. ISBN 978-3-89693-734-6.

Rezensent:

Stefan Michel

Historisches Wissen speist sich aus Quellen. Doch wann wusste man über eine Person oder ein Ereignis aus der Vergangenheit was? Welche Stereotype wurden unbesehen weitertransportiert und verfestigten sich zu einer allgemeinen Überzeugung? Durch die Be­mühungen um kritische Editionen seit dem 19. Jh. ist das Wissen um historische Prozesse und Personen heute vielleicht so groß wie noch nie zuvor. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man die methodisch herausragende historiographische Studie von Günter Vogler gelesen hat. Wer war Thomas Müntzer? Wie wurde er zum Zerrbild der Geschichte, zum Prototyp des Aufständischen oder Häretikers? Das sind Fragen, die der Müntzerstudie V.s zugrunde liegen.
V.s Buch erinnert an die Jenaer Habilitationsschrift von Max Steinmetz (1912–1990) aus dem Jahr 1957, die 1971 unter dem Titel »Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels« im Druck erschien. Einen vergleichbaren Bogen schlägt V. auch, allerdings ohne das Anliegen, die Müntzerforschung im Rahmen des Paradigmas der »frühbürgerlichen Revolution« auf ein sicheres Fundament stellen zu wollen. Nimmt man die Thomas-Müntzer-Bibliographie hinzu, die V. gemeinsam mit Marion Dammaschke im Jahr 2013 vorlegte, kann sein neues Buch auch mit Wilhelm Hammers Standardwerk »Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte« (1967–1996) verglichen werden. Doch letztlich geht V. mit seiner Darstellung eigene Wege. Sein sicheres histo-risches Urteilsvermögen, das sich aus jahrelanger Quellenarbeit speist, befähigt ihn zu dieser Eigenständigkeit.
Nach einem kurzen Vorwort (9–12), in dem V. auf die Schwierigkeiten seines Vorhabens hinweist, bietet er zunächst einen »Überblick über Leben und Lehre« Thomas Müntzers (13–26). Ohne Nachweise hat dieser Text handbuchartigen Charakter.
V. teilt sein Material aus der Zeit zwischen 1519 und 1789 auf 14 unterschiedlich lange Abschnitte auf. Instruktiv ist der erste Ab­schnitt, der »die Überlieferung von Müntzers Schriften und Briefen« darstellt (27–54). Dabei wird deutlich, dass Müntzers Schriften lange kaum zur Kenntnis genommen wurden. Erst im 20. Jh. entstanden kritische Editionen seiner Briefe und Schriften. Diese Be­mühungen endeten mit der dreibändigen kritischen Gesamtausgabe von 2004 bis 2017.
Das Müntzerbild wurde bis in die Neuzeit durch die Darstellungen seiner Wittenberger Gegner – hier vor allem durch Philipp Melanchthon, Martin Luther und Johann Agricola – bestimmt. Die Anfänge dafür zeichnet V. im zweiten Abschnitt nach (55–80). Im 16. Jh. verwiesen die Gegner der Wittenberger Reformation – wie Hieronymus Emser oder Johannes Cochlaeus – in ihrer Publizistik wiederholt darauf, dass »ohne Luther kein Müntzer« denkbar gewesen wäre (81–106). Von hier aus war der Schritt offenbar auch nicht mehr weit, Müntzer in die Geschichte des Täufertums einzuordnen und ihn sogar an ihren Anfang zu setzen (107–130). Allerdings zeichneten die Historiographen kein einheitliches Bild, wie der Vergleich zwischen den Darstellungen von Johannes Sleidan und Heinrich Bullinger zeigt. Gerade in der konfessionell aufgeladenen zweiten Hälfte des 16. Jh.s gab es Diskussionen über »den aufrührerischen Geist« und Luthers Haltung dazu (131–158). V. analysiert in diesem Zusammenhang des 5. Abschnitts sogar Ketzerkataloge.
Für die Etablierung des negativen Müntzerbildes waren wohl vor allem die massenwirksamen Chroniken und Kalendarien verantwortlich, wie V. im 6. Abschnitt zeigt (159–198). Hier geht er auch auf erste Darstellungen des Bauernkriegs ein. Im frühen 17. Jh. brachte man die Schriften Valentin Weigels mit den Gedanken Müntzers in Verbindung. Darum wurden mehrere Diskussionen geführt (199–232). Auch in der europäischen Historiographie der Frühen Neuzeit spielte Müntzer eine Rolle. V. zieht dafür niederländische, französische und englische Publikationen heran (233–266), die allerdings von ihren jeweiligen konfessionellen Standpunkten zu sehr unterschiedlichen Meinungen gelangten. Am Ende des 17. Jh.s wurden Enzyklopädien, Lexika, Landes- oder Stadtgeschichten für die Vermittlung von Wissen über Müntzer bedeutsamer als andere Medien (267–306). Damit ist V.s Darstellung im frühen 18. Jh. angelangt.
Jede Zeit erarbeitet sich ein eigenes Bild von der Vergangenheit. Dieses Ringen kann man sehr gut anhand der Diskussionen um 1700 zeigen, zu denen vor allem Veit Ludwig von Seckendorff durch seine monumentale Reformationsgeschichte beitrug (307–338). Obwohl die Themen – Lutherverehrung und Müntzer als Täufer – nicht neu waren, erfolgte durch die Wiederaufnahme dieser Ge­danken eine neue Annäherung an das Thema. Dass man aber auch anders denken konnte, zeigte der historische Entwurf von Gottfried Arnold (339–370). Dessen Kirchen- und Ketzergeschichte sorgte zugleich für eine erneute Diskussion über Müntzer.
Nachdem Müntzer in chronikalischen und lokalhistorischen Veröffentlichungen präsent war, stellt V. im 12. Abschnitt seines Buches Müntzers Stellung in der Reichsgeschichte dar, die natürlich nicht losgelöst von der Kirchengeschichte zu beschreiben war (371–408). Die Aufklärung entdeckte Müntzer neu, der nun weniger als Häretiker, aber als »Warnschild für die Jugend« galt (409–436). Abschließend zeichnet V. noch »Konturen des Müntzerbildes« in seinem Untersuchungszeitraum nach. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (447–517) sowie ein Personenregister (519–529) und ein Register der »Müntzerorte« und »Müntzerthemen« (531.532–534) laden zum Blättern und Nachschlagen ein.
Das Buch liest sich durchgehend spannend. V. hat eine Form der Darstellung gefunden, die hervorragend informiert und anregend ist. Er verfällt weder in einen Plauderton, noch verfängt er sich im Material. Diese Art der Historiographie ist vorbildlich. Hoffentlich erscheint der zweite Band in absehbarer Zeit.