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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

325–327

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hempelmann, Reinhard

Titel/Untertitel:

Licht und Schatten des Erweckungschristentums. Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit.

Verlag:

Stuttgart: Quell 1998. 299 S. 8 = EZW-Reihe Orientierung. Kart. DM 39,80. ISBN 3-7918-3441-X.

Rezensent:

Werner Brändle

1. "Fortschreitende Individualisierungsprozesse moderner Gesellschaften rufen paradoxe Effekte hervor. Je mehr sich Glaubenssysteme individualisieren, desto größer wird das Bedürfnis nach Bestätigung des eigenen Glaubens durch eine Gemeinschaft. In pfingstlich-charismatischen Gruppen erfolgt die Vermittlung christlichen Glaubens und Lebens biographienah und alltagsbezogen ... Modernitätskritik ist ebenso ihr Merkmal wie das Bemühen um eine neue Inkulturation des Christlichen in den Kontext einer beschleunigten Moderne, in der die kontingenzverarbeitende Funktion der Religion ebenso in Erscheinung tritt wie die Sehnsucht nach Emotionalität und beziehungsreichen Gemeinschaftserfahrungen." (19)

Mit diesen analytisch geprägten Sätzen deutet H. gleich zu Beginn seines informativen Buches an, was der gesellschaftliche Rahmen, die Dringlichkeit und welches seine Deutungskriterien sind, mit denen er das ständig wachsende Erweckungschristentum als Herausforderung für die traditionellen Volkskirchen beschreibt. Es geht ihm nicht nur um eine präzise Analyse und Information über die pfingstlich-charismatischen Frömmigkeitsstile, sondern es geht H. nicht zuletzt darum, dass die Volkskirchen diese Herausforderung zur Kenntnis nehmen, um dadurch ihren eigenen Wahrheitsanspruch theologisch neu zu begründen und ihre seelsorgerliche und gottesdienstliche Erneuerungsfähigkeit aus dem Geiste des Glaubens an den dreieinigen Gott unter Beweis zu stellen.

2. Den größten Umfang des Buches nehmen die Berichte und Beurteilungen über die verschiedenen Ausprägungen der pfingstlich-charismatischen Frömmigkeitsstile ein. Nach einem kurzen authentischen Bericht zu dem, was charismatische Erfahrung sein soll (kann?), versucht H. dankenswerterweise eine kurze begriffliche idealtypische Klärung dazu, wie Pfingstler, Charismatiker und Evangelikale unterschieden werden können. Deutlich wird dabei - was sich durch die Darstellung durchzieht -, dass H. zu Recht davor warnt, den Begriff Sekte bzw. Häretiker auf diese von ihm beschriebenen Gruppen anzuwenden. In Teil 1 "Geisterfahrung in der Pfingstbewegung" (34-66) wird vor allem deren typisches Profil anhand der Konstellationen: Bekehrung und Geistestaufe, Glossolalie und Geistestaufe, Erlösung und Heilung, Gemeinde- und Kirchenverständnis anschaulich und in kritischer Absicht beschrieben. Im Blick auf die Glossolalie formuliert H. "G. wäre demnach bewußtseinsfähige (Gebets-)Sprache des Unbewußten" (59).

Teil 2 "Das Pfingstliche Umfeld" (67-98) erzählt konkret die Aktion ,vom Minus zum Plus’ von R. Bonnke und das Auftreten von R. Howard-Browne und gibt jeweils eine faire Beurteilung dazu ab. Zu Bonnke schreibt H., dass dessen ,Kreuzbüchlein’ in evangelikalem Stil gehalten sei, seine Missionspraxis jedoch die Vorläufigkeit allen christlichen Zeugnisses vergessen macht und "das Evangelium zu einer Ware geworden (ist), die verramscht wird ..." (87).

Teil 3 "Die charismatische Bewegung - Kontinuität und Wandel" (99-134) geht vor allem auf die Geschichte dieser Bewegung ein bzw. auf ihr Verhältnis zu den beiden großen Volkskirchen und zur Ökumene. Diesen Teil zusammenfassend schreibt H.: "Die charismatische Bewegung schafft Verbindungen und Brücken zwischen Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen, verursacht aber auch neue Spaltungen. Sie ist Hilfe zu einem lebendigen Glauben an Christus, aber auch Flucht in eine vermeintliche heile Welt ... Ökumenischer Dialog ist die einzige Möglichkeit, Tendenzen fundamentalistischer Selbstabschließung wirkungsvoll zu begegnen." (133 f.)

In Teil 4 "Einzelthemen" (135-209) beschreibt H. neben ,Der Segen von Toronto’, ,Erweckungschristentum und Endzeiterwartungen’, ,Marschieren für Jesus’ das zentrale Problem ,Fundamentalismus - der Schatten des Erweckungschristentums’. Dabei unterscheidet er zwischen ,Wort- und Geistfundamentalismus’ (199) und erhält dadurch einen plausiblen heuristischen Schlüssel, um die Phänomene sachgemäß beschreiben zu können. Sein Fazit: der Fundamentalismus "mahnt Themen an, die für eine zukunftsorientierte Kirche wichtig sind: missionarische Verantwortung, Deutlichkeit des christlichen Zeugnisses, Glaubensvergewisserung als Aufgabe pastoralen Handelns. Die Antworten, die er anbietet, sind verkürzt, falsch, zum Teil äußerst fragwürdig. Dennoch kann die Sehnsucht, die hinter ihnen steht, nicht dementiert werden" (205).

Mit Teil 5 "Kriterien der Geisterfahrung in der biblischen und katechetischen Tradition" (210-244) liefert H. eine eigenständige theologische Aufarbeitung zum Stellenwert ekstatischer Erfahrungen im NT und deren dogmatischer Tradition. Dabei wird deutlich, dass die charismatische Bewegung keineswegs sich eindeutig auf neutestamentliche Traditionen beziehen kann, ganz zu schweigen von einer trinitätstheologischen Reflexion pneumatologischer Sachverhalte. Man wünschte sich, dass diese klare Darlegung der theologischen Kriterien zu Beginn der Abhandlung stünde, um so auch die andern kritischen Ratschläge und Hinweise noch besser verstehen und einordnen zu können.

In Teil 6 "Neue charismatische Gemeinden als Herausforderung für kirchliches Handeln" (245-264) erörtert H. ekklesiologische Probleme hinsichtlich aktueller Gemeindegründungen. Er fokussiert dieses Problemfeld pars pro toto auf die traditionelle Konstellation ,Institution und Charisma’ mit dem Fazit: "Der Apostel Paulus bindet das Charismatische an die Gemeinschaft und mißt jede Gestaltwerdung des Glaubens daran, ob sie dem Ganzen dient. Der heute erlebte Konflikt zwischen Institution und Charisma erfordert somit einen doppelten Lernprozess. In neuen Situationen und Herausforderungen wird die Werdegestalt der Institution deutlicher hervortreten müssen. Zugleich ist Gottes Geist kein traditionsloses Erneuerungsprinzip, und neu aufbrechende Erfahrungen des Geistes sind an geschichtlicher Kontinuität zu verifizieren." (264)

Im Anhang (265-279) sind dankenswerterweise die Glaubensrichtlinien des ,Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden’ und eine Stellungnahme des ,Kreises charismatischer Leiter in Deutschland’ (1995) abgedruckt, so dass der Leser sich selbst nochmals ein Bild von der pfingstlich-charismatischen Frömmigkeit machen kann.

3. Der Anspruch pfingstlich-charismatischer Spiritualität und der daraus folgenden vielfachen neuen Gemeindegründungen muss (müsste) die Volkskirchen dahingehend provozieren, dass sie fragen: "Wie konstitutiv sind außergewöhnliche Erfahrungen wie Glossolalie, Visionen und Offenbarungen des Geistes für das christliche Leben ... Inwiefern gehören ,übernatürliche’ Heilungserwartungen zur christlichen Existenz und exorzistische Praktiken zum seelsorgerlichen und missionarischen Auftrag der Christen?" (210) Wenngleich das Motto des modernen Erweckungschristentums - ,Frommsein mit Begeisterung’ (101) - einem zeitgenössischen Trend folgt, so zeigt es doch andererseits ein Defizit der "geistlich müde gewordenen (Volks-) Kirche" an.

H.s Buch bietet nicht nur eine klare, faire und aktuelle Darstellung des derzeitigen Standes der charismatischen Bewegung, sondern ist auch eine indirekte Aufforderung an die universitäre Theologie, die Erörterung damit verstärkt aufzunehmen, um die Möglichkeiten einer wahren Rede von Gottes Handeln ,für uns’ neu zur Sprache zu bringen. Nicht zuletzt ist H. damit eine notwendige Veröffentlichung gelungen, die in Zeiten der mehr und mehr unübersichtlich gewordenen religiösen Angebote hilft, die Geister zu prüfen.