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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

303–305

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Prothro, James B.

Titel/Untertitel:

Both Judge and Justifier. Biblical Legal Language and the Act of Justifying in Paul.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIII, 280 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 461. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-156116-0.

Rezensent:

Athanasios Despotis

In seiner an der Universität Cambridge angenommenen Dissertation, die kürzlich in der WUNT II Series mit dem Titel Both Judge and Justifier publiziert wurde, fasst James Prothro die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Semantik und die Theologie des Verbs δικαιόω bei Paulus zusammen. Das Werk erfasst acht Kapitel, schließt an die aktuellen Debatten zwischen den alten und neuen Paulusperspektiven über die Deutung des paulinischen Rechtfertigungskonzeptes an und beabsichtigt u. a., N. T. Wright’s, Douglas Cambells’, J. Louis Martyns’ Rekonstruktionen der paulinischen Theologie in Frage zu stellen.
Im ersten Kapitel teilt P. die am meisten vertretenen Deutungen des δικαιόω-Konzeptes in fünf übersichtliche Kategorien ein und diskutiert sie kritisch. P. favorisiert die forensischen gegenüber den ekklesiologischen oder apokalyptischen Deutungen und fokussiert auf den Kontext des Gerichtssaals, »the world of the courtroom«, der laut P. in der aktuellen Paulusinterpretation oft übersehen wird. Die Tatsache, dass Paulus das Verb δικαιόω in einem posi-tiven Sinn wie die LXX-Übersetzer, und nicht negativ wie andere griechisch-römische Autoren, gebraucht, führt P. zu einer Einschränkung, die seinen ganzen Ansatz prägt. Er berücksichtigt die Dynamik des kulturellen Diskurses im Mittelmeerraum der frühen römischen Kaiserzeit nicht und stellt Paulus so vor, als ob er nur mit jüdisch-biblischen Traditionen vertraut wäre.
Die Untersuchung des Rechtfertigungskonzeptes in der hebräischen Bibel und der LXX folgt dem Modell von Pietro Bovati (Re-Establishing Justice, 1994) und wird in den nächsten drei Kapiteln ausgeführt. P. kommt zum Schluss, dass das Verb δικαιόω nicht nur einen Sprechakt, sondern den gesamten Akt des Richtens umfasst (60–61). Ebenso spricht er vom Gebrauch des Verbs δικαιόω in zwei Kontexten: a) Bilaterale Streitigkeiten. In bilateralen Prozessen verweist die Rechtfertigung auf die Wiederherstellung einer rechten Beziehung zwischen zwei Personen. b) Trilaterale Streitigkeiten. In solchen Fällen muss ein Richter den Streit zwischen zwei Parteien beurteilen und die eine Seite rechtfertigen, d. i. sich für die eine Seite entscheiden und die andere verurteilen. P. bespricht ferner die Art und Weise, in der Gott Israel in bilateralen oder trilateralen Prozessen rechtfertigen kann. In bilateralen Prozessen verweise der Gedanke, dass Gott Israel rechtfertigt, auf die Vergebung der Sünden Israels. Einst die Versöhnung zwischen Gott und Israel erreicht wird, ändert sich die Szene: Israel erwartet vom Richter Gott zugunsten seines Volkes zu handeln, ihm zu helfen und seine Feinde zu zerstören. Gottes rechtfertigender Akt in diesem trilateralen Kontext bedeute Gottes Einsatz für Israel. Die Analyse P.s ist detailliert, vorsichtig strukturiert und beruht auf der Grundlage einer umfangreichen und aktuellen Bibliographie. Die Besprechung ist an der Darstellung der Gerichtsszene sowie der Se­mantik des Verbes δικαιόω und nicht an der Rekonstruktion der historischen Situationen orientiert, auf die sich die verschiedenen biblischen Texte beziehen.
Vor diesem Hintergrund vertritt P. die These, dass sich Paulus den Rechtfertigungsbegriff der LXX als eine theologisch vorbelas-tete forensische Metapher aneignet, um das Christusereignis in Analogie (in analogous ways, 114) zu früheren biblischen Darstellungen von Gottes Handeln zu deuten. P. stellt zugespitzt »a pre un­derstood theological significance to δικαιόω« (138) bei Paulus fest. Hiermit offenbart P. die sprachtheoretischen und herme-neutischen Voraussetzungen, die seine Analyse des paulinischen Rechtfertigungskonzeptes in den Kapiteln 6–8 prägen. Einerseits erfasst er die theologische Sprache quasi als fixiert und spielt die historische Entwicklung und die pragmatische Funktion der Argumente des Paulus herunter. Darum reflektiert er nicht über die Frage, ob die Hauptinformation jedes Kommunikationsprozesses, in dem das Verb δικαιόω auftritt, mit dem theologisch (vorbelasteten) Rechtfertigungsbegriff gleichzusetzen ist. Andererseits vertritt er eine veraltete Auffassung der Geschichte des Urchristentums. Denn er hebt ausschließlich die jüdische Prägung (distinctly Jewish stamp, 136) der paulinischen Theologie und Ethik hervor. Von möglichen Affinitäten der Denkstrukturen des Paulus und seiner Gemeinde mit popularphilosophischen Traditionen der frühen römischen Kaiserzeit ist kaum etwas zu spüren.
Bei der Exegese der einschlägigen Texte in 1Kor, Gal und Röm verfolgt P. das Ziel, die »fundamentale Kontinuität« zwischen dem Rechtfertigungskonzept des Paulus (fundamentally continuous, 210) und früheren biblischen und frühchristlichen Traditionen zu zeigen. Hiermit bestreitet er die Thesen, dass die »Rechtfertigungslehre« entweder später in der Theologie des Paulus entstanden sei oder die Argumente seiner Gegner widerspiegele. Aus dieser Perspektive werden auch Texte wie 1Kor 4,4 kommentiert, die in den Debatten über das paulinische Konzept meistens übersehen werden. P.s exegetischer Zugang in solchen Fällen ist besonders zu würdigen, weil er den positiven und dynamischen Charakter des paulinischen Rechtfertigungskonzepts unterstreicht. Die Rechtfertigung ist m. E. keine forensische Fiktion, sondern ein Prozess, der mit der Bekehrungserfahrung beginnt und beim eschatologischen Gericht vollendet wird. In der Exegese von 1Kor 6,11 be­tont P. zwar die Verbindung der Idee der Rechtfertigung mit der Taufe, aber er kann keinen Beleg für die Verbindung des Verbs δικαιόω mit dem Begriff πίστις in demselben Brief finden. Infolgedessen ist seine These, dass der paulinische Gebrauch des Verbs δικαιόω eine lange forensische Tradition voraussetzt, korrekt. Das kann aber nicht bei dem Argumentationszusammenhang über die Recht-fertigung aus Glauben an Christus und nicht aus Werken des Ge­setzes der Fall sein. Letzterer ist während der galatischen Krise über die beschneidungsfreie Mission des Paulus entstanden.
Deswegen scheitert P. bei der Diskussion von Gal 2 mit der These, dass der paulinische Argumentationszusammenhang über die Rechtfertigung aus Glauben in Antiochien entstanden sei. P. führt keine einschlägigen Textbelege, sondern nur die Behauptung einer Plausibilität an (That such an understanding about justification in Christ would have been common at Antioch is quite plausible, 133). Eine plausiblere Lösung als jene P.s scheint m. E. zu sein, dass Paulus in Gal 2 den antiochenischen Konflikt mit der Sprache des Galaterbriefes beschreibt. Paulus projiziert nämlich die Situation Ga-latiens auf Antiochien zurück. Der Bezug auf den baptismalen Text in Gal 3, in dem das Verb δικαιόω vorkommt, und sein Vergleich mit anderen einschlägigen Texten (1Kor 6,11; Röm 6,3–4.7) zeigt ferner, dass Paulus die Rechtfertigung aus Glauben nur in Kontexten bespricht, in denen er eine ekklesiologische Frage zu lösen versucht, d. h. das Recht der Heiden, die Verheißungen Gottes an Abraham zu erben, ohne die jüdische Identität zu haben. P. unterstreicht jedoch den gerichtstheologischen Aspekt der Aussagen des Paulus und deutet auch die betreffenden Stellen des Römerbriefs in Bezug auf bilaterale oder trilaterale Gerichtsszenen. Sein Versuch, die kultische mit der forensischen Dimension in Röm 3,21–31 zu vereinigen, ist überzeugend. Die christologische Deutung von Röm 6,7 ist jedoch nicht plausibel, weil Paulus an keiner Stelle über das Gerechtfertigt-Werden Christi von der Sünde spricht.
Gleichwohl besteht die große Leistung der Arbeit P.s darin, dass sie den Paulusexegeten hilft, das Verb δικαιόω mit seinen forensischen Implikationen und interpersonalen Dimensionen besser zu verstehen. Es ist tatsächlich eine Bereicherung, die bilateralen und trilateralen Perspektiven des Rechtfertigungskonzepts zu entdecken, und deswegen liefert P.s Studie einen wichtigen Meilenstein in der Paulusforschung. Aber die Rekonstruktion der historischen Situation, auf die sich die einschlägigen Texte beziehen, und die Darstellung ihrer pragmatischen Funktion setzt eine ausgiebigere synthetische Arbeit sowie die Berücksichtigung des breiteren kulturellen Diskurses in der frühen römischen Kaiserzeit voraus.