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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

301–303

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Osten-Sacken, Peter von der

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Gemeinden in Galatien.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 384 S. = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 9. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-3-17-033339-0.

Rezensent:

Walter Klaiber

Im Jahr 1999 hat von der Osten-Sacken in der Festschrift für B. Klappert einen Aufsatz zum Thema »Ein künftiger Kommentar zum Galaterbrief« veröffentlicht. Genau 20 Jahre später ist dieser Kommentar erschienen und erfüllt alle Wünsche, die man an eine gute wissenschaftliche Auslegung stellen kann. Er beginnt mit einer ausführlichen Einleitung zur Entstehung des Briefs und seiner Nachwirkung, einschließlich hermeneutischer Fragen. Der Vf. entscheidet sich für die nordgalatische Hypothese und für die traditionelle Auffassung, dass Paulus sich gegen judenchristliche »Nachmissionare« wendet, die auch für Heidenchristen die Be­schneidung fordern und die Autorität des Paulus in Frage stellen.
Er gliedert den Brief in drei Hauptteile (1,10–2,21; 3,1–4,31; 5,1–6,10), wobei er den eher unüblichen Einschnitt vor 5,1 eingehend begründet. Die Auslegung der einzelnen Perikopen ist immer gleich gegliedert: Auf die Übersetzung folgt ein Überblick, in dem die Struktur des Abschnitts und seine Einbettung in den Kontext besprochen wird, dann die Einzelexegese und bei einer Reihe von Perikopen ein Abschnitt Vertiefungen, in dem weiterführende Fragen behandelt werden.
Die Übersetzungen sind sorgfältig gearbeitet, Alternativen werden genannt und Entscheidungen begründet, gelegentlich auch freie Übertragungen gewählt. Die Exegese analysiert Schritt für Schritt den Text und bespricht Auslegungsalternativen. Meist kommt der Vf. zu einer klaren eigenen Entscheidung, ohne zu apodiktischen Urteilen zu neigen. Er kann auch anderen Meinungen ihr relatives Recht lassen und gibt zu, wo er eine Entscheidung nicht für möglich hält. Der Vf. zitiert die neuere Literatur, berücksichtigt aber auch ältere Arbeiten (auffallend die häufigen Hinweise auf Sieffert [KEK 7, 1899] und – trotz bleibender Kritik – die stillschweigende Rehabilitierung von Billerbeck als Referenz für rabbinische Texte). Er widersteht aber der Versuchung, seine Belesenheit durch Zitationskatenen in den Fußnoten zu belegen, was der Lesbarkeit guttut.
In seiner Auslegung ist der Vf. zunächst darum bemüht, möglichst genau zu erkennen und dann klar darzustellen, was Paulus selbst sagen will. Eine Art Vorzensur, die weiß, was Paulus aufgrund gewisser Voraussetzungen gemeint haben muss, wird vermieden. Erst an zweiter Stelle folgt die Frage, ob er seine Gegner richtig verstanden hat und – wie bei der Reihe und den Vorarbeiten des Vf.s nicht anders zu erwarten – ob die Art, wie Paulus jüdische Gesetzesfrömmigkeit darstellt, dem entspricht, was wir aus jüdischen Zeugnissen der Zeit erheben können. Hier sieht der Vf. deutliche Unterschiede, vor allem wenn es um die Bewertung des Gesetzes geht. Aber er zeigt erstens, dass Paulus auch im Gal keine ausschließlich negative Bewertung des Gesetzes vertritt, und versucht zweitens zu erklären, warum Paulus zu seiner abweichenden Be­wertung kommt.
Auffallend ist, dass der Vf. schon beim Briefkopf eine genaue theologische Auslegung auch formelhafter Wendungen fordert. 1,4 wird für ihn zu einem Leitwort für den ganzen Brief (55–58). Bemerkenswert ist auch die sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fluchs (64–67). Schon hier betont der Vf., dass eine Festlegung der Argumentation des Paulus auf die Antithetik Gesetz und Evangelium eine »erhebliche Verengung des Begriffs euange-lion« bedeuten würde. Die biographischen Angaben in Kapitel 1 und 2 bewertet er kritisch; auch sie sind interessengeleitet wie die Darstellung seines »Judentums« (89–92). Und ohne die Wahrheit der paulinischen Position im antiochenischen Konflikt grundsätzlich in Frage zu stellen, legt er »ein Wort für Petrus und Barnabas« ein und wirbt dafür, auch ihr Verhalten zu verstehen (124–127).
Ab 2,15 fallen in der Auslegung wichtige Entscheidungen. Dabei sieht der Vf. »nicht den geringsten Hinweis«, dass Paulus pistis chris-tou anders denn als Gen. obj, verstanden hat (114.116). Dikaiousthai meint einen ständigen Prozess im Sinne eines dynamischen Geschehens, in dem man gerecht gemacht wird (115). Und als erga nomou bezeichnet Paulus »halachisch gebotene Handlungen« (115). Aber trotz dieser Eingrenzung zeigt sich auch für den Vf., dass es für Paulus im Folgenden (besonders in 3,10 f.) um den grundsätzlichen Gegensatz von glauben und tun geht: »Im Bereich des nomos im paulinischen Verständnis bleibt der Mensch damit bei sich, im poiein eingeschlossen – so wie ›Macher‹ in der Regel einsame Zeitgenossen sind. Im Bereich von Verheißung und Glaube ist demgegenüber das von Gott gestiftete Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf entscheidend. An die Stelle der Einseitigkeit des menschlichen Tuns (poiein) tritt die Zweiseitigkeit des göttlichen Schenkens (charizesthai) und des menschlichen Empfangens (lambanein).« Allerdings wäre es eine »Verzeichnung, würde man jüdisches Verständnis des Gottesverhältnisses allein auf den Begriff des poiein bringen« (160 f.). Grundsätzlich ist dies aber eine klare Bestätigung der »klassischen« Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre!
Ich kann nur einige weitere Highlights der Auslegung nennen: Zu 1,4 und 3,14 bietet der Vf. sehr klare Erläuterungen zur Bedeutung des Kreuzestodes Jesu bei Paulus (56 f.155 f.). Bei 3,13 f.24 und 4,5 stellt er sich der Frage, wer mit dem Wir gemeint ist, mit dem Ergebnis, dass für Paulus in gewissem Sinn auch die Heiden zu denen »unter dem Gesetz« gehören (153 f.170.192). Ungewöhnlich ist die Deutung der Wendung elpis dikaiosynēs als Gen. subiectivus: »das, was die Gerechtigkeit zu hoffen hat« (250), instruktiv der kleine Exkurs »Zur spirituellen Seite der Beschneidung« (255 f.).
In 5,13–24 stellt Paulus neben die Rolle des Gesetzes als Ankläger seine Aufgabe als »Wegweiser« (262 f.). Für ihn ist »die Tora in Ge­stalt des Liebesgebots autorisiert« und wird so zum »Gesetz des Christus/Messias« (294). Die Dialektik des paulinischen Gesetzesverständnisses wird damit klar herausgearbeitet.
So sehr der Vf. bemüht ist, die Intention des Paulus möglichst einfühlsam herauszuarbeiten, gibt es auch Stellen, an denen er Sachkritik übt. Das betrifft vor allem 4,31, wo Paulus dem »irdischen« Israel das Erbe abspricht, und seine ausfälligen Bemerkungen in 5,12 sowie 6,13 f. Im Blick auf Gerichtsaussagen wie in 6,7 f. plädiert er aber dafür, »den Text gegebenenfalls in seiner Sperrigkeit stehen zu lassen« und sich die Verlegenheit einzugestehen, in die er uns heute bringen mag (304).
Es ist nicht möglich, in dieser Rezension den Reichtum der Überlegungen im abschließenden Teil C. »Resümee und Reflexionen« zu entfalten. In ihm geht es um weiterführende Gedanken zu Themen, die durch die Ausführungen des Paulus im Galaterbrief angestoßen werden, so z. B. um die Frage der Menschenwürde. Bemerkenswert ist das entschiedene Plädoyer gegen Versuche, aus Gal 3,28 einen undifferenzierten Universalismus zu entwickeln. Für Paulus bleibt der Glaube das Tor, durch das der Weg zu einem bedingungslosen Miteinander aller führt (323 f.).
Fragt man, was bei der Auslegung des Vf.s problematisch er­scheint oder noch zu wünschen wäre, lässt sich nicht allzu viel sagen. Ich nenne zwei ganz unterschiedliche Punkte. Ich empfinde die »Übersetzung« gojim für ethne als schwierig, obwohl ich die Intention verstehe. Und ich hätte mir eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf von N. T. Wright gewünscht, der sich ja in we­sentlichen Stücken auf den Galaterbrief stützt. Aber grundsätzlich ist der Kommentar ein schönes Beispiel dafür, was eine Auslegung »einfach geleitet vom gesunden exegetischen Menschenverstand« (27 von einem anderen Exegeten) an Erhellung und Verständnishilfe eines paulinischen Textes leisten kann.