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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

257–258

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Jäger, Sarah, u. Jean-Daniel Strub [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gerechter Frieden als politisch-ethisches Leitbild. Grundsatzfragen. Bd. 2. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018. VI, 138 S. = Gerechter Frieden. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-658-21756-3.

Rezensent:

Thomas Bohrmann

Im Rahmen eines dreijährigen Konsultationsprozesses (2016–2019) an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. Heidelberg (FEST) haben sich über 60 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in vier interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppen mit dem gerechten Frieden auseinandergesetzt. Dabei wurden friedensethische Grundsatzfragen, Fragen zur Ge­walt, Fragen zum Verhältnis von Frieden und Recht sowie politisch-ethische Herausforderungen diskutiert. Die Ergebnisse werden in einer 20-bändigen Reihe zur Friedensethik publiziert.
Aus dem Themenbereich der Grundsatzfragen wird der gerechte Friede als politisch-ethisches Leitbild vorgestellt. Mit der Idee des gerechten Friedens wird die Lehre vom gerechten Krieg, die jahrhundertelang die Debatte um Krieg und Frieden bestimmt hat, zu überwinden versucht. Die traditionelle Bellum-iustum-Lehre sollte zwar den Frieden zum Ziel haben und gewalthaltige Auseinandersetzungen mit militärischen Mitteln beschränken, aber sie war im Hinblick auf ihre Kriterien interpretationsoffen und diente den Herrschern oftmals als Durchsetzung eigener machtpolitischer Interessen. Das (neue) sozial-ethische bzw. politisch-ethische Leitbild vom gerechten Frieden hat eine eindeutige friedensethische Akzentuierung. Es verengt die Friedensthematik nicht auf die Problematik militärischer Verteidigung, sondern berücksichtigt ein umfassendes Friedensverständnis und möchte damit Orientierung für die Friedenspolitik geben.
Im Zentrum des aus sieben Beiträgen bestehenden Sammelbandes stehen grundlegende Fragen. Dabei geht es im Kern um eine Be­stimmung dessen, was »ein Leitbild als ethische Kategorie be­deutet und wie mit der Spannung von normativen Setzungen und konkreten Erfahrungen umgegangen werden kann« (10). Diese Fragebereiche werden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Nach der Einleitung (Sarah Jäger), die den Begriff des (ethischen) Leitbildes einführend konturiert, beschreibt Christoph Seibert an­hand des Friedensbegriffs das Verhältnis von Ethik und Politik, indem er die Konzeptionen von Augustinus und Immanuel Kant im Vergleich vorstellt und vor dem Hintergrund dieser Klassiker das Konzept des gerechten Friedens veranschaulicht. Entscheidend ist, dass die Idee des gerechten Friedens nicht nur eine rechtsethische Seite auf Basis der Menschenrechte hat und sozioökonomische Probleme in den Blick nimmt, sondern auch die kulturelle Vielfalt auf der Basis der gleichen personalen Würde aller Menschen be­rücksichtigt. Jean-Daniel Strub erläutert, inwiefern ein Leitbild eine ethische Dimension hat und was es zu leisten vermag. In diesem Sinne wird verdeutlicht, dass ein Leitbild eine vermittelnde Funktion (zwischen Norm und Handlung) hat, bildhaft handlungsleitend wirkt und einen prozesshaften Charakter besitzt.
Letztlich können Leitbilder als richtungsgebende Orientierungsrahmen für ethisches Urteilen dienen. Auch Tobias Zeeb konzentriert sich auf die Leitbilddiskussion, wobei er sie von ähnlichen Begriffen (Norm, Prinzip, Grundsatz, Maxime) abgrenzt und eine theologisch-ethische Profilierung mit Überlegungen von Arthur Rich vorschlägt. Christina Schües fragt in ihrem Beitrag nach dem Praxisbezug der Friedensdenkschrift von 2007 und erläutert das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und lebensweltlicher Er­fahrung eines Leitbildes. Mit dem Begriff des Gewissens rekurriert Pascal Delhom auf einen ethischen Grundbegriff und hebt damit hervor, dass die Einlösung des gerechten Friedens nicht nur von entsprechenden rechtlichen und sozialen Strukturen abhängt, sondern vor allem von individuellen Entscheidungen, die den einzelnen Subjekten zuzurechnen sind. Im abschließenden Beitrag von Jean-Daniel Strub werden die Ergebnisse anhand der zentralen Begriffe Frieden, Ethik und Politik, die das ethische Leitbild des gerechten Friedens konzentriert umschreiben, zusammengefasst.
Innerhalb der Kirchen in Deutschland wurde das Konzept des gerechten Friedens in systematischer Form vor allem in zwei Stellungnahmen behandelt, nämlich dem katholischen Hirtenwort »Gerechter Friede« (2000) und der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« (2007). Der vorliegende Band mit seinen Beiträgen kann als ethische Konkretion dieser kirchlichen Dokumente verstanden werden, die die jeweiligen sozialethischen Positionen interpretieren und aktualisieren. Dabei wird in den einzelnen Beiträgen die reichhaltige Literatur, die in den letzten Jahren zum gerechten Frieden erschienen ist, sorgfältig rezipiert. Die Idee des gerechten Friedens kommt leider nur innerhalb theologischer und kirchlicher Diskurse zur Sprache, im säkularen Raum ist sie kaum zu vernehmen.
Vielleicht können diese Publikation und die anderen von der FEST initiierten friedensethischen Veröffentlichungen einen Beitrag dazu liefern, dass das politisch-ethische Leitbild des gerech-ten Friedens stärker innerhalb sozialwissenschaftlicher De­batten wahrgenommen wird. Das wäre diesem Leitbild sehr zu wünschen.