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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

229–231

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Cimino, Antonio

Titel/Untertitel:

Phänomenologie und Vollzug. Heideggers performative Philosophie des faktischen Lebens.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2013. 240 S. = Heidegger Forum, 9. Kart. EUR 23,90. ISBN 978-3-465-04189-4.

Rezensent:

Markus Höfner

Der inzwischen an der Radboud Universität, Nijmegen, lehrende Autor legt mit seinem Buch eine Untersuchung der Philosophie des faktischen Lebens in Martin Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen 1919–1923 vor und fasst damit die Ergebnisse eines 2008 am Institut für Philosophie der Universität Freiburg durchgeführten Forschungsprojekts zusammen.
Ins Zentrum seiner Rekonstruktion von Heideggers frühem Denken stellt Antonio Cimino den Zusammenhang zwischen Heideggers Konzept einer »hermeneutischen Intuition« (95–183) und seinem Verständnis der »formalen Anzeige« resp. der formal anzeigenden Funktion philosophischer Begriffe (185–223). Heideggers Konzept der »hermeneutischen Intuition« expliziert C. dabei pointiert als eine solche Radikalisierung der Husserlschen Phänomenologie, die deren (cartesianische) Bindung an eine theoretische Erkenntnisperspektive überwindet: Statt die phänomenologische Methode als Technik der vergegenständlichenden Phänomenanalyse einzusetzen, wie dies aus seiner Sicht bei Husserl der Fall ist, geht es Heidegger darum, das in faktischer Lebenserfahrung immer schon implizite (Selbst)Verstehen in einem phänomenologischen »Mitgehen« zu explizieren (vgl. vor allem 125–130). Gerade deshalb findet, wie C. zu Recht betont, die »hermeneutische Intuition« bei Heidegger ihr Gegenstück in der »formal anzeigenden« Funktion philosophischer Begriffe. Denn Letztere sollen nach Heideggers Überzeugung die in »hermeneutischer Intuition« erfassten Aspekte faktischer Lebenserfahrung nicht zu isolierten Gegebenheiten objektivieren, sondern (lediglich) so anzeigen, dass sie im phänomenologischen »Mitgehen« nachvollzogen werden können (vgl. vor allem 202–209). C. sieht klar, dass dieser Zusammenhang von »hermeneutischer Intuition« und »formaler Anzeige« bei Heidegger selbst ein Verständnis von Philosophie als philosophischer Lebensform impliziert, in der es – auch in der Lektüre philosophischer Texte – um das je eigene Philosophieren geht (vgl. 214–223). Vor allem aber profiliert C. die – nicht neue, aber entscheidende – Einsicht, dass »hermeneutische Intuition« und »formale Anzeige« (wie Heideggers frühe Philosophie überhaupt) ihr systematisches Zentrum im Vollzug faktischer Lebenserfahrung finden: Der »Gehaltssinn« (das »Was«) und der »Bezugssinn« (das »Wie des Gegebenseins« im Sinne Husserls) faktischer Lebenserfahrung können nach Heidegger nur im Rekurs auf deren grundlegenden Vollzugssinn (das [zeitliche] »Wie des Lebensvollzugs«) verstanden werden (vgl. vor allem 119–124). Der systematisierende Zugriff C.s auf Heideggers Phänomenologie des faktischen Lebens blendet daher zwar die in Heideggers frühen Vorlesungen beobachtbaren Brüche und Revisionen aus und enthält sich zudem jeglicher Kritik, hat aber seinen Reiz darin, im Ausgang vom Primat des Vollzugssinns (der »Pragmatik« faktischen Lebens) die verschiedenen Aspekte der frühen Phänomenologie Heideggers zu einem in sich konsistenten Zu­sam­menhang zu konsolidieren.
C. belässt es in seiner Untersuchung allerdings nicht bei der skizzierten Rekonstruktion von Heideggers früher Phänomenologie. Die eigentliche Pointe seiner Untersuchung sieht er vielmehr in der Deutung dieser Phänomenologie als »performative Philosophie des faktischen Lebens«. Denn der Begriff der Performativität ist nach Überzeugung C.s nicht nur der »privilegierte Ansatz- und Orientierungspunkt«, um den »philosophischen Grundsinn von Heideggers frühem hermeneutisch-phänomenologischem Projekt ans Licht zu bringen« (99). Er soll es zugleich ermöglichen, Heideggers frühe Phänomenologie als »philosophischen Grundlegungsversuch« (88) in die verschiedensten geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskurse einzubringen, die gegenwärtig Performativität als Grundzug kultureller Phänomene artikulieren (vgl. vor allem 20 f.87–94). Nun ist es grundsätzlich eine probate Strategie der Heidegger-Interpretation, philosophische Grundbegriffe Heideggers durch Konzepte aus anderen Theoriekontexten zu explizieren. Lässt sich so doch die Alternative vermeiden, Heideggers Denken (und Sprache) entweder unkritisch nachzusprechen oder einer äußerlich bleibenden Kritik zu unterwerfen. Der von C. vorgelegte Deutungsvorschlag, der darauf hinausläuft, Performativität als Synonym für Heideggers Begriff des Vollzugssinns zu verwenden (so explizit 16.126.130 u. ö.), kann allerdings nicht überzeugen. C. sucht seine Interpretationsstrategie zwar im Rekurs auf die (frühe) Sprechakttheorie Austins zu begründen, indem er dessen Begriff der Performativität und Heideggers Verständnis der Vollzugssinns unter Verweis auf beiden gemeinsame Motive parallelisiert. Dies gelingt jedoch nur durch eine Verzeichnung der Position Austins. So vollzieht sich etwa die De-Privilegierung des Aussagesatzes (eines der von C. genannten gemeinsamen Motive) bei Heidegger als dessen Fundierung im vortheoretischen Lebensvollzug, während es in Austins Differenzierung von Performatives und Constatives um das Eigenrecht performativer Äußerungen neben den konstatierenden geht. Das Problem der von C. vorgeschlagenen Interpretationsstrategie liegt aber tiefer. Denn unabhängig davon, ob man sich wie C. an den frühen Austin hält, an Austins eigene Revision der Differenz performativ-konstativ durch diejenige von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten oder ob man Performativität als umbrella term für den gegenwärtigen performative turn der Kulturwissenschaften versteht und dabei den Aspekt der Inszenierung (performance) oder der Iterabilität betont: In allen Fällen kommt Performativität als intrinsisch kommunikatives Phänomen in den Blick, das nur in einem wenigstens minimalen sozialen setting zu haben ist (mit dem Adressat eines Versprechens, dem Publikum einer Inszenierung etc.). Der für den frühen Heidegger zentrale Vollzugssinn hingegen bezieht sich auf den zeitlichen Vollzug faktischen Lebens in seiner Jemeinigkeit, kann allenfalls sekundär kommunikativ artikuliert werden und ist allen sozialen Zusammenhängen gegenüber »ursprünglich«. Einen ganz eigenen Begriff von Performativität als Synonym zu Heideggers Vollzugssinn einzuführen ist daher zwar nicht begriffspolizeilich verboten, trägt aber weder zur Erschließung der frühen Phänomenologie Heideggers noch zu ihrer Verknüpfung mit dem performative turn der Kulturwissenschaften bei. Dies zu konstatieren heißt nicht, jede Verbindung zwischen Heideggers früher Phänomenologie und gegenwärtigen Performativitäts-Diskursen zu verneinen. Vielmehr bietet Heideggers Auszeichnung der Pragmatik menschlichen Lebensvollzugs und seine Kritik jeder sich absolut setzenden Vergegenständlichung durchaus An­satzpunkte für ein fruchtbares Gespräch, in dem dann auch die blinden Flecken des Heideggerschen Ansatzes selbst zur Sprache kommen könnten und müssten. Heideggers »Vollzugsinn« einfachhin als »Performativität« zu deuten wird ein solches Gespräch aber kaum fördern und gar ersetzen können.