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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

208–211

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kurzmann, Frank Alexander

Titel/Untertitel:

Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. VI, 337 S. m. Abb. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 141. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-061488-6.

Rezensent:

Berthold Schwarz

Diese im Wintersemester 2016/17 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Hamburg angenommene Doktorarbeit von Frank A. Kurzmann untersucht aus der Perspektive eines Kirchenhistorikers frühneuzeitliche Vorstellungen unterschiedlicher Konfessionen zum »Jüngsten Gericht«. Die in insgesamt acht Kapiteln entfaltete Untersuchung listet unterschiedliche Endzeiterwartungen von Bekenntnissen (von Kirchen und Einzelpersonen) auf, die die christliche Hoffnung angesichts des Jüngsten Gerichts thematisieren.
In der »Einleitung« (1–20) führt der Vf. in das Thema und den Forschungsstand zum jüngsten Gericht ein. »Das Ziel der Arbeit«, so der Vf., »ist es, verschiedene Vorkommen, Aspekte und Kontexte der Rede vom Jüngsten Gericht in ausgewählten Schriften frühneuzeitlicher Autoren zu beleuchten« (3). Dabei werden exempla-rische (deutschsprachige) Schriften aus der lutherischen, reformierten, römisch-katholischen und nonkonformistischen Tradition untersucht und ausgewertet (»konfessionskomparatistisch«, 3). Die Untersuchung sei auch deshalb von Bedeutung, weil die Ge­richtsthematik in der (aktuellen) historischen und theologischen Forschung erheblich unterbelichtet untersucht worden sei und diesbezüglich auch in der Lutherforschung gravierende Defizite bestünden (4 f.). Allerdings relativiert der Vf. dieses Urteil selbst, wenn er im Sinne eines »Forschungsstandes« beispielsweise in den Fußnoten 3 bis 60 etliche Arbeiten erwähnt, die die Endzeit- und Gerichtsthematik aus unterschiedlicher »interkonfessioneller« Perspektive bereits untersucht haben. Hier besteht eine gewisse Unausgewogenheit, die präziser hätte erläutert werden müssen. Das Phänomen der Trans- bzw. der Interkonfessionalität, also die interkonfessionelle Zusammenschau der Gerichtskonzeptionen in der frühen Neuzeit, interessiert den Historiker dabei auf besondere, interesseleitende Weise (13–16).
In Kapitel 2 (21–65) analysiert die Untersuchung zunächst Martin Luthers Rede vom Jüngsten Gericht, auch deshalb, weil in der Lutherdeutung unterschiedliche Forschungsergebnisse kursieren, die Luther teilweise auf eine rein präsentische Eschatologie fixieren wollen und die futurische Gerichtsthematik bei ihm zurückweisen und diese Thesen dementsprechend auf ihre Korrektheit hin überprüft werden sollen. Wieso nur Luther als reformatorischer Vertreter und damit als »Vorläufer« für die »frühe Neuzeit« in den Blick genommen wurde, nicht auch exemplarisch Calvin, Zwingli, Bucer und andere Reformatoren, die auf die konfessionelle und insbesondere auf die nonkonformistische Eschatologie von Gruppierungen und Einzelpersonen (Puritanismus, Pietismus) Einfluss genommen haben, wird nicht erörtert. Es hätte lohnend sein können, wenn auch diese »Schriftausleger« als theologiegeschichtliche Hintergrundfolie einführend skizziert worden wären, um sich dann auf die exemplarischen Texte der frühen Neuzeit konzentrieren zu können. Angesichts der (nicht selten) anachronistischen Vereinnahmung der Eschatologie Luthers durch Lutherausleger als angeblich exklusiv präsentisch stellt der Vf. zu Recht dar, dass das futurische Gericht Gottes nach Luther nicht als obsolet negiert, sondern als ernsthaft kommend erwartet werden muss.
Im nachfolgenden Kapitel 3 (66–98) wird anhand ausgewählter Bekenntnistexte aus Bekenntnisschriften die Gerichtsthematik im Anschluss an Luther ausgewertet, prominent orientiert an der Ablehnung von nonkonformistischen Vorstellungen der Allversöhnung, die von allen Reformatoren (vgl. CA XVII usw.) verworfen wurde. Dass in der Forschung gelegentlich zu pauschal allen Nonkonformisten als Fremdzuschreibung fälschlicherweise unterstellt wurde, dass sie alle Allversöhner gewesen seien, wird vom Vf. differenziert herausgearbeitet und dabei dokumentiert, wer sozusagen als Allversöhner angesehen werden konnte und wer nicht. Der Vf. stellt heraus, dass neben den markanten Annihilatio-Vorstellungen von Lelio Sozzini, Fausto Sozzini und Ernst Soner (92 ff.) erst im radikalen Pietismus, insbesondere bei Johanna Eleonora Petersen und ihrem Ehemann, allversöhnerisches Gedankengut popularisiert worden sei (95 ff.).
In Kapitel 4 (99–147) werden exemplarische Predigten (auch damalige Leichenpredigten) zur klassischen Gerichtsbibelstelle aus Mt 25,31–46 daraufhin untersucht, wie lutherische, reformierte und katholische Prediger über das Gericht, die Hölle und das Fegefeuer dachten und welche Troststrategien angesichts des futurischen Gerichts dabei ggf. zur Sprache kamen. Mehrheitlich dienten die Gerichtspredigten dazu, Trost im Glauben an Christus zu spenden oder zur Umkehr zu mahnen. Trans- und interkonfessionelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Fegefeuer) in den Predigten zum Gericht werden differenziert ausgewertet.
Erneut wird im anschließenden Kapitel 5 (148–208) eine zentrale Gerichts-Bibelstelle herangezogen, nämlich Apk 20, um an ihr exemplarisch zu demonstrieren, wie auf interkonfessioneller Ebene die jeweilige Interessenlage gewesen ist, um die Gerichtsthematik anhand der Apokalypse für die jeweilige christliche Hörer- und Leserschaft zur Sprache zu bringen, da »[k]atholische wie protes-tantische Autoren […] in der Frühen Neuzeit gleichermaßen an der Exegese dieses Kapitels interessiert« waren (148). Dabei werden Unterschiede hervorgehoben, beispielsweise dass lutherische Ausleger das Leben in der Gegenwart »in der Endzeit« verorteten und den Antichristen als bereits gekommen beschrieben (was beides Katholiken ablehnten). Auffallend an diesem Kapitel ist, dass die Ausleger von Apk 20 nicht chronologisch aufgearbeitet werden. Die lutherischen Ausleger Daniel Cramer und David Chyträus (spätes 16. Jh.) werden vor Luthers Auslegung von Apk 20 besprochen, dann die katholische Exegeten Cornelius Lapide und Brás Viegas (2. Hälfte des 16. Jh.s) vor Heinrich Bullinger (1504–1575), und schließlich wieder – neben Exkursen zu Luis de Alcázar und Hugo Grotius – die allversöhnerische Radikalpietistin Johanna Petersen (ab 203 f.). Die Darstellung der Einzelpositionen im Kapitel ist gedanklich nachvollziehbar und auch weiterführend (Interkonfessionalität usw.), die Konzeption überzeugt jedoch nicht.
Eine Untersuchung ausgewählter geistlicher Lyrik zur Ge­richtsthematik wird in Kapitel 6 vorgestellt und kommentiert, immer unter der interesseleitenden Absicht, interkonfessionelle Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen den Unterschieden und Gegensätzen gegenüberzustellen (209–253). Lutherische und katholische Dichter werden im Blick auf die Endgerichtsthematik hin analysiert und besprochen. Dabei stellt sich heraus, dass die Gattung »Dichtung« mit ihren Sprachbildern noch komprimierter theologische Sachverhalte des Gerichtes Gottes darstellen konnte, als das die Predigten oder exegetische Abhandlungen hatten tun können, und sie damit einen besonderen Ausdruck der Frömmigkeitsgeschichte bildet.
Das 7. Kapitel konkretisiert die Gerichtsthematik mit besonderer Berücksichtigung der konfessionstheologischen Argumente gegen die Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit (254–293), bevor Kapitel 8 in einer »Zusammenfassung« (294–309) in 79 Sentenzen oder Thesen die Ergebnisse der kirchenhistorischen Arbeit bündelt. Wie nun jedoch konzeptionell die Hexenverfolgungen (ab den 1560er Jahren bis etwa 1630) mit dem Thema Endgericht zusammenhängt, kann zwar erahnt werden, wird aber theologisch nicht adäquat plausibilisiert. Dass damals einige gegen Aberglauben und qualvolle Folter vorzugehen gedachten (Johann Rist, Friedrich Spee, Johann M. Meyfart, Anton Praetorius, Christian Thomasius u. a.), ist noch kaum eine überzeugende Begründung dafür, wieso diese Thematik zur behandelten Aufgabenstellung der Untersuchung dazugehören sollte. Konzeptionell wirkt das Kapitel humanistisch interessegeleitet, anachronistisch »konstruiert« und fehl am Platz. Dass nicht erst die Epoche der Aufklärung durch rationale Gründe, sondern bereits vorausgehende Zeiten mit theologischen Gründen Kritik an Folter, Hexenprozessen und der damit verbundenen Hinrichtung übten, ist zwar an sich eine wichtige historische Einsicht, doch nicht wirklich substantiell weiterführend im Blick auf den doppelten Ausgang im »Jüngsten Gericht« Gottes.
Das Literaturverzeichnis liefert gute Einblicke in die behandelten Themenfelder und motiviert zum punktuellen Weiterstudium (310–327); ein übersichtliches Bibelstellen- und Personenregister beschließt das Buch (329–337); 16 Abbildungen zeitgenössischer Darstellungen von Gerichtsmotiven veranschaulichen die historische Erörterung der Endzeitthemen.
Insgesamt gesehen bietet diese wissenschaftliche Untersuchung wertvolle Einsichten in historische Quellen der Frühen Neuzeit zum Thema »Gericht Gottes«. Die trans- und interkonfessionelle Zielrichtung der Arbeit zeigt viele hilfreiche Möglichkeiten, aber auch theologische Grenzen für den interkonfessionellen Dialog in der Gegenwart auf. Dieses Nebeneinander von Bekenntnistexten, exegetischen Auslegungen, lyrischen und theologischen Abhandlungen der Vergangenheit verdeutlicht zugleich Vielfalt und Ähnlichkeit theologischer Ansichten, die auch in der Gegenwart ökumenische Gespräche bereichern können. In dieser Hinsicht ist diese Untersuchung – trotz marginaler konzeptioneller und inhaltlicher Un­ausgewogenheiten – zum Eigenstudium, zur Vorbereitung von transkonfessionellen Begegnungen wie auch zur konstruktiv-kritischen dogmatischen Neuorientierung angesichts festzuhaltender futurischer Endgerichtsvorstellungen sehr zu empfehlen.