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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

197–199

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Lissek, Maria, Rahn, Nancy, u. Florian Lippke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neue Perspektiven auf den Nikolaus. Ein populärer Heiliger im interdisziplinären theologischen Gespräch.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 207 S. = Jerusalemer Theologisches Forum, 33. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-402-11033-1.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Obwohl Nikolaus einer der populärsten christlichen Heiligen ist, bleibt seine bisherige Erforschung überschaubar. Die Studie von Lothar Heiser mit einer tief in die byzantinischen Traditionen gerichteten Gesamtperspektive, die Untersuchung von Charles W. Jones mit besonderem Augenmerk auch auf das legendarische Fortleben des Heiligen im Westen sowie einige jüngere Publikationen, die sich vornehmlich auf das Nikolaus-Brauchtum konzentrieren, fassen den Kenntnisstand weitgehend zusammen. Bedenkt man, dass die beiden erstgenannten Untersuchungen bereits aus den 1970er Jahren stammen, wird das Forschungsdesiderat im Blick auf den Heiligen Nikolaus von Myra umso deutlicher. Angesichts dieser Lage fand im Dezember 2015 an der Universität Bern in Kooperation mit der Universität Fribourg eine Tagung unter dem Titel statt: »New Perspectives on Samichlaus. Ein populärer Heiliger im interdisziplinären Gespräch«.
Der anzuzeigende Sammelband vereinigt die Beiträge des ge­nannten Symposiums, die zum einen Teil auf arrivierte Lehrstuhlinhaber und -inhaberinnen und zum anderen Teil auf Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zurückgehen. Im Anschluss an das von den Herausgebern formulierte knappe »Vorwort« (7–8) bietet Peter Gemeinhardt aus altkirchlichen Perspektiven einen Überblick zu »Wanderungen eines Heiligen. Ge­stalt und Legende des Nikolaus in der byzantinischen, mittelalterlichen und reformatorischen Hagiographie« (9–37). Joachim Negel steuert einen Aufsatz mit dem Thema »Heiligkeit. Systematische Erwägungen zu einem schillernden Begriff« bei (39–59).
Die meisten Beiträge blicken auf den Heiligen Nikolaus aus biblischen Perspektiven: Nancy Rahn, »Wunder-Punkt. Alttestamentliche Perspektiven auf den Heiligen Nikolaus als Wundertäter« (61–76); Florian Lippke, »Heiligkeit in der biblischen Welt. Thesen und Vorarbeiten zu einem religionshistorischen Verständnis der Nikolausfigur« (77–108); Nils Neumann, »Nikolaos und die Almosen. Lukanische Motive in der Vita per Michaelem« (111–127); Zbynek Kindschi Garsky, »Der Hl. Nikolaus und das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30)« (129–144); Maria Lissek, »Himmelsbote und Höllenvertreter. Zum finsteren Begleiter des Heiligen Nikolaus aus historisch-theologischer Perspektive« (145–162). Jörg Schwaratzki fragt aus pastoral-theologischer Sicht: »Der Nikolaus – heiliger Brauch oder ›verkleidetes‹ Instrument der Er­ziehung?« (163–191). Katharina Heyden bietet eine Zusammenfassung der Einzelbeiträge unter dem Titel »Nikolaus – Ein Heiliger für alle Fächer. Rückblickender und weiterführender Essay« (193–199). Ein Autorenverzeichnis (200) und ein Register (Bibelstellen und Stichworte) runden den Band ab (201–207).
Um es vorweg zu sagen: Dem Ziel des vorgelegten Bandes, »neue Perspektiven auf den Nikolaus« zu eröffnen, werden die wenigsten Einzelbeiträge gerecht. Denn was von dem Gebotenen »im interdisziplinären theologischen Gespräch« der Rede wert sein mag, ist im interdisziplinären Gespräch mit Kunstgeschichtlern und Historikern oft schon lange bekannt oder aufgrund neuer methodischer Zugriffe längst überholt.
So ist spätestens seit den Forschungen von Ludwig Bieler zum theios aner aus den 1970er Jahren erwiesen (und u. a. durch die entsprechenden Forschungen von Peter Brown, Arnold Angenendt etc. bestätigt), dass die biblischen Schriften die entscheidenden Vorlagen für die christliche Hagiographie bieten; in diesem Gesamtrahmen erstrangig die Prophetengestalten, unter denen Jesus mit seiner Wundertätigkeit eine herausragende Position zukommt.
Das Fehlen einer über die Theologie hinausweisenden interdisziplinären Weite charakterisiert mehr als jeden anderen Beitrag den Aufsatz von Joachim Negel. Sein Überblick, der ohne jede Rückbindung an die Nikolausforschung auskommt (den Namen »Nikolaus« nennt er nicht ein einziges Mal!) lässt sich am ehesten als erweiterter Lexikon-Artikel zum Lemma »Heiligkeit« in einem sys-tematisch-theologischen Nachschlagewerk charakterisieren. Dass Sonderforschungsbereiche und Einzelforscher aus den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Soziologie (Hamm, Joas etc.) seit vielen Jahren zum Thema »Heiligkeit« neue Perspektiven beisteuern, macht Negel für sein Thema nicht einmal im Ansatz fruchtbar. Gleichermaßen ohne tiefere religionsgeschichtliche Vergewisserung bleiben die Gedanken von Jörg Schwaratzki – so sehr seinem Plädoyer für ein Christentum zuzustimmen ist, das (innerhalb und außerhalb des Nikolaus-Brauchtums) von Angst und Leistung frei ist.
Die wohl größte interdisziplinäre Weite zeichnet den Beitrag von Peter Gemeinhardt aus. Er präsentiert seine forschungsgeschichtlichen Orientierungen sowie seine diachron angelegten Überlegungen zu Entstehung und Rezeption der Nikolaus-Legenden im byzantinischen und im lateinischen Bereich pointiert und theologiegeschichtlich gehaltvoll. Freilich hätten auch diese Einsichten noch an Tiefe gewonnen, wenn er auf die Frage eingegangen wäre, warum eine Nikolaus-Legende an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auftaucht und welchen Beitrag eine solche Nikolaus-Legende zur Identität oder zur Legitimation des jeweiligen Gemeinwesens geleistet haben könnte. Ob man hier nämlich so unbedarft von »frei erfundene[n] Geschichten und Legenden als historische[n] Quellen« sprechen kann, wie Katharina Heyden das tut (194), muss (trotz ihrer ansonsten um Perspektivreichtum bemühten Tagungszusammenfassung) wohl fraglich bleiben. Immerhin zeigt doch Gemeinhardt exemplarisch anhand der Nikolaus-Rezeption während der Reformation, wie aus dem ehemaligen Amtsträger ein den Zölibat und die Papstautorität ablehnender »leyen bisschoff« und damit »ein evangelischer Heiliger« wurde (29).
In summa: Der vorgelegte Band bietet inhaltlich wenig Neues, insofern er methodisch fast durchgängig innerhalb der rein theologischen Forschung angesiedelt ist und damit weit hinter der (geisteswissenschaftlich-)interdisziplinären Forschung zurückbleibt. Damit lässt er nicht nur jene Frage offen, die den letzten Satz des gesamten Sammelbandes ausmacht: »Welchen Nikolaus verdient unsere Zeit?« Auch der »Einblick in die Zukunft der akademischen Theologie« (193) präsentiert sich düster, wenn diese Nikolaus-Aufsätze dafür als Maßstab herhalten müssten.