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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

193–195

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus

Titel/Untertitel:

Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums. Ein Studienbuch.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 367 S. m. 11 Abb. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 208. Kart. EUR 60,00. ISBN 978-3-17-030922-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Der komplexe Ablösungsprozess zwischen dem antiken Judentum und dem frühen Christentum betrifft nicht nur religiöse Phänomene, sondern auch ökonomische, soziologische, politische und kulturelle Verhältnisse und Entwicklungen. Die Intention des Buches von Markus Tiwald besteht in einer grundlegenden lehrbuchartigen Beschreibung des frühjüdischen Umfelds des Chris-tentums, welche in eine eingehende Erörterung der Beweggründe und des Verlaufs dieses Prozesses mündet.
Die kurze Einführung (21–24) enthält Anmerkungen zum aktuellen Forschungsstand und zum Aufbau des Buches. Der erste Buchteil (25–51) diskutiert die Angemessenheit der beiden von T. durchweg verwendeten Begriffe »Frühjudentum« und »Urchristentum«, begründet den zeitlichen Rahmen seiner Geschichtsdarstellung (vom Beginn der Hellenisierung des östlichen Mittelmeerraums bis zum Anfang der rabbinischen Bewegung im 2. Jh. n. Chr.) und fragt nach dem Verhältnis von Pluriformität und Homogenität sowohl im antiken Judentum als auch im frühen Chris-tentum. Eingehend behandelt wird die allmähliche Konturierung zweier eigenständiger und voneinander abgrenzbarer Religionsgemeinschaften (»Parting of the Ways«; Edwin K. Broadhead spricht hier m. E. angemessener vom »Forming of the Ways«). Im zweiten Buchteil (53–115) wird der historische Rahmen beleuchtet. T. zieht hier einen weiten Bogen von der ersten babylonischen Deportation des Jahres 598/7 v. Chr. bis zur Durchsetzung des rabbinischen Judentums um 200 n. Chr.; die didaktisch gut aufbereitete Darstellung stellt im Wesentlichen eine geraffte und memorierbar strukturierte Version der gegenwärtig vorliegenden Standardwerke zur jüngeren Geschichte Israels dar.
Der ausführliche dritte Buchteil (117–236) thematisiert zu­nächst den historischen Kontext, die literarischen Quellen und die theologische Ausrichtung der unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb des zeitgenössischen (zunächst palästinischen) Ju­dentums. Knapp angesprochen werden dabei auch das (westliche) Diasporajudentum, Philon von Alexandreia und sein Werk, das Synagogeninstitut, Flavius Josephus und seine Schriften sowie weitere einschlägige Belegtexte (u. a. Apokryphen und Pseudepigraphen, Zeugnisse der jüdischen Apokalyptik, Qumrantexte) und die samaritanische Religionsgemeinschaft. Schließlich werden Johannes der Täufer, Jesus aus Nazareth, die Jesusbewegung und das nachösterliche Christentum behandelt. Am Ende des Buchteils (226–236) bietet T. eine Zusammenstellung der Berührungspunkte und Differenzen zwischen der (sich selbst als integraler Teil des Judentums verstehenden) Jesusbewegung und sämtlichen vorgestellten Gruppierungen ihrer Zeit.
Der vierte Buchteil (237–256) enthält den Versuch, die Entstehungsdynamik des beginnenden Christentums nicht nur theologisch, sondern auch soziologisch nachvollzuziehen. Dabei beschäftigt sich T. eingehend mit Gerd Theißens These von der Desintegration der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jh.s n. Chr., mit Jürgen Zangenbergs Wahrnehmung eines »Cultural Split« zwischen den ländlichen und den urbanen Regionen in der Provinz, mit den als »Sozialbanditen und Zeichenpropheten« gekennzeichneten palästinischen Widerstandsbewegungen sowie mit der generellen Wahrnehmung sozialer Spannungen in der Geschichte und Literatur des antiken Judentums.
Der fünfte Buchteil (257–310) konzentriert sich auf »Tora« und »Tempel« als Schlüsselbegriffe jüdischer Theologie und Frömmigkeit, welche in ihren unterschiedlichen Bedeutungsaspekten den »lebendigen Gotteswillen« (266) und die »Konkretisierung der Heilsverheißungen Gottes« (271) repräsentierten. Die Abschnitte über Tora und Tempel im Spiegel der Verkündigung Jesu gelangen zu den Ergebnissen, dass weder die von diesem beanspruchte Autorität als »endgültiger Interpret des Heilswillens Gottes« (284) gängigen jüdischen Auffassungen widersprochen habe noch seine tempelkritischen Handlungen und Worte als »prinzipielle Infragestellung des Tempels« (285) zu bewerten seien. Im Folgenden geht es nacheinander um den Stephanuskreis und die »Hellenisten«, um die Einflüsse frühjüdisch-liberaler Positionen auf die nachösterlichen Gemeinden, um Leben und Lehren des Völkerapostels Paulus, sowie um die Logienquelle, das Matthäusevangelium und das lukanische Doppelwerk. In seinem Schlusswort (311–313) stellt T. generelle Erwägungen zur Bedeutung von »Identity Markers« im Judentum und im Christentum an. Gerade der andauernde Diskurs um die konsolidierenden und abgrenzenden Funktionen entsprechender Kennzeichen und Vorschriften sei »religionssoziologisch unerlässlich für den theologisch gesunden Fortbestand einer lebendigen Religion« (313). Der Anhang (315–330) enthält eine Zeittafel, Karten, Schaubilder und (mitunter in unbefriedigender Qualität wiedergegebene) Abbildungen. Beigegeben sind Register der Sa­chen (335–338) und Stellen (339–342), ein Abkürzungsverzeichnis (343 f.) und eine Bibliographie (345–367).
Das instruktive Studienbuch wird sicher viele – insbesondere studentische – Leser finden. Seine deutliche Fokussierung auf die Voraussetzungen und den Verlauf des Auseinandergehens von antikem Judentum und frühem Christentum hebt es dabei von anderen Lehrwerken zur neutestamentlichen Zeitgeschichte ab. Entgegen seiner Zielsetzung basieren die Darstellungen und Deutungen T.s freilich zumeist auf literarischen Quellen; eine noch intensivere Auseinandersetzung mit der Archäologie und auch mit nichtliterarischen Texten hätte hier sicher noch weitere Ergebnisse und genauere Analysen ermöglicht.