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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

178–181

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos). Eingel., übers. u. m. interpretierenden Essays versehen v. K.-W. Niebuhr, W. Ameling, F. Blischke, M. V. Blischke, A. Fürst, R. Hirsch-Luipold, H.-G. Nesselrath u. a.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIII, 350 S. = SAPERE, 27. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152808-8.

Rezensent:

Martina Kepper

Nach einer ganzen Reihe von Bänden der Reihe SAPERE zu theologiegeschichtlich bedeutsamen Texten aus der Umwelt des Alten und Neuen Testamentes ist nunmehr unter der Ägide des Jenenser Neutestamentlers und Fachherausgebers der Theologischen Literaturzeitung Karl-Wilhelm Niebuhr der Band zur Sapientia Salomonis erschienen. Dieser Band nimmt nicht von ungefähr als erste Schrift des Kanons der griechischen Bibel die Weisheitsschrift auf, zeigt dieses in den Jahrzehnten kurz vor bzw. kurz nach der so­genannten Zeitenwende entstandene Buch doch trotz einer allfälligen Verwurzelung in der Gedankenwelt der jüdischen autoritativen Schriften des Zweiten Tempels einen immensen Schatz an rhetorischem und philosophischem Gedankengut, der der griechisch-hellenistischen Kultur entstammt.
Eine Einleitung in das Werk bietet Niebuhr selbst (3–37), der neben einer knappen, aber zuverlässigen Abhandlung der Einleitungsfragen griffig konstatiert, dass ohne die Weisheitsschrift »die christliche Theologie nicht zu dem geworden wäre, was sie in Grundzügen erkennbar seit dem 2. Jh. n. Chr. geworden ist« (35).
Herzstück der Ausgabe ist die gründliche Neuübersetzung des nicht ganz einfachen Textes durch den Altphilologen Heinz-Günther Nesselrath. Textgrundlage ist die von Joseph Ziegler erarbeitete kritische Ausgabe im Rahmen des Göttinger Septuagintaunternehmens, von der indes an 21 Stellen mit der von Rudolf Hanhart besorgten Neuausgabe des Rahlfstextes abgewichen wird. Zudem bietet Nesselrath an vier Stellen eigene Konjekturen, die zum Teil auf die neuere Kommentarliteratur zurückgehen (vgl. 126, Anm. 236 zu 11,20). Zusammen mit dem von Nesselrath, Niebuhr und Rainer Hirsch-Luipold erarbeiteten umfangreichen Anmerkungsapparat erschließt sich die Sprachgestalt und Gedankenwelt der Sapientia auch dem philologisch und philosophiegeschichtlich nicht so bewanderten Leser in hervorragender Weise. Auffällig ist angesichts der mit großer Sorgfalt zusammengetragenen biblischen wie griechisch-philosophischen Parallel- und Bezugstexte lediglich, dass die Verankerung innerhalb des jüdisch-hellenistischen Schrifttums häufig recht pauschal unter dem Begriff der »frühjüdischen Toraparänese« subsummiert wird. Hier wäre eine die neueren Studien zur Textentstehung und Intertextualität aufnehmende Differenzierung wünschenswert gewesen.
Da es sich bei der Sapientia um eine Schrift handelt, die aufgrund ihres gewählten Vokabulars den am neutestamentlichen Griechisch orientierten Leser eher abschreckend daherkommt, ist allein schon durch die Gegenüberstellung von griechischem Text und deutscher Übersetzung, die größtenteils die Wortstellung und vor allem die Stichosgliederung des Griechischen nachvollziehbar macht, die größte Hürde für die Beschäftigung mit der Sapientia durch dieses Hilfsmittel genommen. Das ist für eine theologisch so wichtige Schrift aus dem Umfeld des Neuen Testaments mit großer Dankbarkeit aufzunehmen.
Neben der Erschließung der Schrift durch Übersetzung und Kommentar ist die von Nesselrath vorgenommene gründliche philologische Analyse ihrer Sprachgestalt (137–154) ungemein hilfreich. Die letzte Studie zur Wortstatisik der Sapientia, die die Rezensentin vorgelegt hat, konnte noch nicht auf die nun vorliegenden und vor allem leicht zugänglichen sowie umfangreichen Datenbanken zurückgreifen, die Wortstatistiken generell enorm vereinfachen. Nesselrath macht daher die notwendigen Korrekturen in Einzelfällen (vgl. 140, Anm. 14), kommt aber ebenfalls zu dem Schluss, dass der Autor aufgrund seiner gezeigten Skills in Wortwahl und Stilistik sicherlich genauso in klassisch-hellenistischer Manier ausgebildet wurde, wie man es für die nichtjüdischen Ge­lehrten seiner Zeit voraussetzen kann.
Ein zweiter Essay zur Theologie der Sapientia Salomonis von Mareike V. Blischke schließt sich an (155–173). Sachgemäß führt Blischke zunächst aus, dass eine systematische Gotteslehre in einem derart literarischen Werk nicht zu erwarten sei. Ausgehend von ihrem an anderer Stelle entwickelten redaktionsgeschichtlichen Modell zur Entstehung der Weisheitsschrift arbeitet sie zu­nächst als Kernannahme heraus, dass Gott als der lebensfördernde und liebende Gott und die Todesverfallenheit des Menschen strikt zu trennen seien (165). Die Passagen, die Gottes richtendes und strafendes Wirken umfassen, werden von ihr überwiegend einer späteren Redaktionsschicht zugewiesen (vgl. z. B. 167 zu Sap 5,17–23) und damit der Grundschicht abgesprochen. Die Be­gründung für diese diachrone Analyse hat Blischke andernorts vorgelegt, was das Lesen dieses Essays nicht behindert. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, etwas über die Trägerschaft dieser Redaktionsschicht zu erfahren. Dass gerade die Synkrisen über Gottes strafendes Handeln (Kapitel 11–19) das menschenfreundliche Gottesbild der Sa­pientia unterstreichen, überzeugt. Inwiefern dieses Konzept auch für das hellenistische Umfeld der Schrift attraktiv gewirkt haben könnte (173), bleibt spekulativ.
Drei weitere Essays beleuchten dann in sorgsamer Ausführlichkeit wie gebotener Kürze das ideengeschichtliche Umfeld: Friedrich V. Reiterer weist der Sapientia ihren Platz in der frühjüdischen Weisheitsliteratur zu (175–189). Ausgehend vom grundsätzlichen Kulturdruck der hellenistischen Zeit, dem sich auch schon je auf ihre Weise die Bücher Kohelet und Ben Sira gestellt haben, hält er die Zeit zwischen dem politischen Machtwechsel von den Ptolemäern zu den Seleukiden bis zum Auftreten der Römer für den entscheidenden Hintergrund der Weisheitsschrift. Er argumentiert überzeugend, dass Bildung das einigende Band für alle Hellenen gewesen sei und die jüdische Bevölkerung ein Teil dieser Gesellschaft gewesen ist. Innovativ führt Reiterer die erklärungsbedürftige Spannung zwischen der den Menschen zugewandten Weisheit als Personifikation und ihrer kosmologischen Kraft im Sinne einer transzendenten Größe weiter, indem er nachweist, wie die Schrift durch Einsatz stilistischer Mittel Gott und Weisheit so dicht parallelisiert, dass beide Größen fast nicht mehr unterschieden werden können.
Walter Ameling erhellt darauf den politisch-gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehungszeit der Weisheitsschrift (191–218). Mit der Schärfe des Historikers ruft er zunächst in Erinnerung, dass alle Versuche, Ort und Zeit der Entstehung der Sapientia festzulegen, nur mehr oder weniger plausible Indizienbeweise sein können, bevor er dann doch gleichsam konventionell die Stellung des Judentums im Ptolemäerreich und speziell in der alexandrinischen Diaspora des ausgehenden 1. Jh.s v. Chr. als Ausgangspunkt seiner Ausführungen nimmt. Entsprechend rekonstruiert er die Stellung des Judentums aus den außerbiblischen Quellen dieses Zeitraumes. Schon allein diese Zusammenstellung des Materials ist aus-gesprochen zu begrüßen. Seine Wahrnehmung, dass es keinerlei Hinweise auf eine sanktionierte Orthopraxie innerhalb der unterschiedlichen Ansiedlungen von jüdischen Gruppen in der Diaspora gegeben habe (199), gibt zudem den Blick frei auf die Breite und Diversität des vorrabbinischen Judentums.
Die notwendige philosophiegeschichtliche Einordung liefert nochmals K.-W. Niebuhr (219–256). Besonders willkommen ist seine differenzierte Darstellung der beiden vorherrschenden Lehrmeinungen der Stoa und des konkurrierenden sogenannten Mittelplatonismus, deren Vertreter Antiochos und Eudoros nun gerade mit Alexandria in Verbindung zu bringen und daher einschlägig sind. Als Anknüpfungspunkte zur Weisheitsschrift denkt er vor allem an die in dieser Schulrichtung entwickelte ethische Orientierung am Ideal des »Lebens gemäß der Natur« und der »Angleichung an Gott/homoiosis« (231). Die Homoiosis-Idee dürfte sich indes eher aus dem locus classicus Gen 1,26LXX ergeben, denn die Sapientia benutzt den Begriff nicht.
Maren Niehoff stellt darauf die Frage nach dem Verhältnis der Sapientia zu Philo (257–271), die sie ganz im Sinne ihrer andernorts entfalteten These von den unterschiedlichen politisch-soziologischen Milieus beantwortet, denen sich die nicht ganz zeitgleichen Schriften Philos und die Sapientia verdanken. Diese These ist intellektuell anregend, indes wäre es mit Blick auf die Weisheitsschrift interessant gewesen zu wissen, wie diese Milieus pro-römischer Realpolitiker und der eher subversiv-eschatologisch gesinnten Weisheitsgruppe (269) de facto haben Seite an Seite leben können.
Die letzten beiden Essays richten schließlich den Blick auf die Wirkungsgeschichte der Weisheitsschrift. Folker Blischke (273–291) unterzieht die positivistische, u. a. von Nikolaus Walter vertretene These, Paulus habe die Sapientia bei der Abfassung seiner Briefe »zur Hand« gehabt, einer neuen Durchsicht und macht thematische Überschneidungen aus, die zumindest eine Kenntnis plausibel machen könnten. Dazu zählen nach Blischke u. a. die Themenfelder Gerechtigkeit, die im Galater- und Römerbrief zentral sind, sowie das Thema der Weisheit, die beide für die Klassifizierung der gegnerischen Positionen herangezogen werden. Dass die Gottlosen der Sapientia indes vornehmlich aufgrund ihres Verstoßes gegen die materiale Ethik zu verurteilen wären, scheint mir ein wenig blass, sind diese Gottlosen doch nicht nur ethische Libertinisten. Vielmehr ist gerade die Frage nach dem Empfang der Weisheit dezidiert erkenntnistheoretisch auf das Gottesverhältnis hin formuliert. So werfen die Gottlosen dem Gerechten doch gerade vor, sich damit zu brüsten, er habe Gotteserkenntnis (Sap 2,13), während sie selbst sich der Unkenntnis Gottes schuldig machen (Sap 13,1). Ein Vergleich dieser Konzeption mit der paulinischen Hermeneutik des Wortes vom Kreuz könnte unter Umständen erhellend sein.
Alfons Fürst geht schließlich (293–316) der Kanonfrage und der Rezeption der Sapientia bei Origenes nach. Hier schließt sich insofern der Kreis zur Einleitung, weil die Sapientia ausweislich des Canon Muratori zu den neutestamentlichen Schriften gezählt wurde und bei den Kirchenvätern der alexandrinischen Tradition kanonische Geltung errungen hatte (315). Die Bedeutung dieser Schrift für das sich entwickelnde Christentum ist also nicht zu überschätzen. Insofern gelingt es Fürst glänzend nachzuweisen, dass die Rezeption bei Origenes, die sich hauptsächlich auf die Aussagen über die Weisheit in Kapitel 7 bezieht, in christologischer Hinsicht erfolgt ist. Weisheit, wie sie in der Sapientia charakterisiert ist, hat für ihn damit höchsten Stellenwert sowohl für das Menschen- als auch das Gottes- und Weltbild und ist Quell ethischer Orientierung, metaphysischer Welterklärung und spiritueller Leitung.
Ein Stellen-, Namen- und Sachregister schließen das vorzügliche Arbeits- und Studienbuch ab. Es dürfte fortan keinen Hinderungsgrund mehr geben, sich mit dieser für die Entwicklung der christlichen Theologie so wichtigen Schrift auseinanderzusetzen.