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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

139–141

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wirksame Kirche. Sozio-theologische Studien. Hrsg. v. Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 425 S. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-374-05630-9.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

Der langjährige Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI) legt fast gleichzeitig mit seinem Eintritt in den Ruhestand eine Sammlung von Beiträgen vor, die die Linien zweier vorangehender Bände von 2014 und 2016 unter der Perspektive der »Wirksamen Kirche« weiterführt. Er knüpft dabei insbesondere an Be­deutung von Kirchenbindung und Kirchengemeinde zusammen mit der Kritik am liberalen Paradigma (2014) an. Das zeigt schon der »Eindruck einer in ihren Kernaktivitäten reichlich unbekümmerten Kirche« (8) als Ausgangspunkt, gefolgt von einer theologischen Klärung der Frage nach der Wirksamkeit und der »Organisation des Nicht-Organisierbaren«.
Bezugspunkt für W. ist mehrfach die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V). Die gegensätzlichen Interpretationen werden pointiert auf den Punkt gebracht (»Vielfalt oder Verfall«). Dem Vorwurf eines reaktionären Rückgangs auf gesellschaftlich marginalisierte Sozialformen von Kirche und Religion steht der einer gefährlichen Gleichgültigkeit gegenüber Grunderfordernissen der Reproduktion von Kirche und Religion gegenüber (79 f.).
Für die im »liberalen Paradigma« verbreitete Annahme eines breiten religiösen Interesses in der Bevölkerung bei gleichzeitigem Versagen der Kirche, es angemessen zu bedienen, sieht W. keine empirische Evidenz. Zur Interpretation kirchlicher Indifferenz als Verhalten »autonomer religiöser Akteure«, die sich eben entschieden hätten, nicht religiös zu kommunizieren, aber gleichwohl »kirchliche Anerkennung finden« sollten, bemerkt er: »Hier stürzen die Konstruktionen doch wohl ins Bodenlose« (102).
Wie kann die Kirche dann dem Plausibilitätsverlust von Religion begegnen? Kirche soll »zu dieser Situation der Selbstreferenzialität von Religion […] stehen […] Wir können nicht anders, als uns selbst vom Transzendenten her zu begreifen, und wir wollen auch nichts anderes!« (162 f.).
Gegenüber einem regressiven Verständnis von Religion, bei dem religiöse Kommunikation der Bewältigung von Angst dient, hebt W. deren »progressive« Gestalt im Ausüben von Mut und in der Veränderung der Weltwirklichkeit hervor: »Hier regiert nicht die Angst […], sondern die Notwendigkeit, in einer spezifischen Situation einen Neuanfang zu setzen« (143). Es gehe nicht nur darum, die Bedürfnisse von Menschen zu analysieren und zu befriedigen, sondern deutlich zu machen, »dass Kirche und Diakonie selbst einen Anspruch haben und etwas von und mit den Leuten wollen« (161). Ohne eine solche »charismatische Aktivierung« sei »religiöse Erneuerung nicht zu haben« (163). Zugleich plädiert W. für verstärkte Anstrengungen in religiöser Sozialisation und Kommunikation, konkret sieht er in der Ausrichtung auf Familien und Diakonie »zurzeit die größte Chance, dass Kirche und Religion wieder zu mehr Resonanz finden« (166).
Maßstab für eine gelungene Kirchenbindung ist dabei »eigenständiger Glaube«. Für die Mitgliederkommunikation kommt es darauf an, »dass die Beteiligten erahnen können, [dass] hinter dem Ge­schehen, das sie real erleben, etwas Religiöses, Göttliches oder Transzendentes steckt« (203). Der weitere Schritt zur Entstehung von Engagement setzt »voraus, dass sich die Mitglieder in der Kirche als Teil eines größeren Wir integriert haben und in dieser Hinsicht die Kirche nicht als Anstalt, sondern […] als ›Gemeinschaft‹ er­leben« (219).
Neu an der KMU V ist die »Fokussierung der Kirchengemeinden«. Hier verortet W. das Sozialkapital, hier sieht er Engagementpotentiale. Das alles wurzelt nicht in der organisatorischen oder institutionellen Gestalt der Kirche, sondern in persönlichen Kontakten und »Gemeinschaftsstrukturen«. Daher gelte es Abschied zu nehmen von der »reflexartigen Verachtung der Ortsgemeinde […] Die Ortsgemeinde ist die Drehscheibe religiöser Kommunikation – so schwach sie auch immer sein mag« (273). Auch die »Suche nach neuen kirchlichen Sozialformen« (337 ff.) beginnt deshalb auf der Ebene der Kirchengemeinde.
»Erfolgreiche« Gemeinden nehmen die Situation des Wettbewerbs wahr und werben aktiv um die Menschen. Es geht um »religiöse Entrepreneure«, um »Burning Persons«, um eine »Charismatische Aktivierung« (351) im Gegensatz zum bloßen Verwalten. Damit verbunden ist die Transformation von der »Anstalt« zum »Akteur«. Da »die kirchliche Organisation im Kern ein eher abweisendes Verhalten im Blick auf innovative Aktivitäten aufweist« (365), muss für eine »Umsetzung des Missionsauftrags der Kirche« (366) die »anstaltliche Ausrichtung« überwunden »und die kirchlichen Protagonisten vor Ort [müssen] zu Akteuren einer aktiven Reproduktion von Kirche und Glauben ermutigt und befähigt werden« (367). Die Basis dafür ist »ein großes christlich-religiöses Narrativ. Dieses kann nur als Antwort auf eine klassische Frage entstehen: Wer ist Jesus Chris-tus heute für uns?« (371)
Auch Innovationen sollten auf der Grundlage empirischer Einsichten erfolgen. Experimentellen Neuaufbrüchen (»Fresh expres-sions«, Erprobungsräume) gegenüber ist W. bei allem Respekt vor deren Kreativität eher zurückhaltend. Dezidiert kritisch sieht er Bestrebungen, religiöse Kommunikation vermehrt auf der Ebene des Kirchenkreises anzusiedeln. Dem hält er schlicht entgegen, dass nach wie vor die Ortsgemeinden Haftpunkte für Identifikation seien und deutlich mehr Engagementpotential aufwiesen.
Mit Angebotssystemen und Professionalisierung allein ist es da­bei nicht getan. Vielmehr müsse der Typus der Volkskirche dem der Mitgliederkirche Platz machen. Mehr noch: Unter Berufung auf Martin Luther provoziert W. mit der Anregung, Kirchengemeinden in Genossenschaften umzuwandeln: »Wir vor Ort sind die Kirche, und deswegen entscheiden wir – und nicht ›die da oben‹!« Zwar sind Genossenschaften »keineswegs […] von sich aus missionarisch – aber das sind die gegenwärtigen Volkskirchen noch weniger« (422 f.).
In Blick auf Diakonie und Gemeinwesenarbeit sieht W. die Chance der Kirchengemeinden, sich im Sozialraum als spezifisch re-ligiöse Akteure zu profilieren. Es geht um Sozialkapitalbildung, um »Caring Communities« – letztlich aber um die Frage nach religiöser Identität und religiösen Ressourcen. Er fragt nach einer religiösen Lektüre des Gemeinwesens: In religiöser Kommunikation äußern sich Kräfte, »die heilend in das Kraftfeld eines Sozialraums einströmen können« (331). Die Rede vom »Faith Capital« soll darauf hinweisen, »welch möglicherweise große Kraft religiöse Vitalität und Produktivität zur Gestaltung von Sozialität im Gemeinwesen hat« (331).
Der Band enthält dreizehn Einzelbeiträge, die in vier Themenbereiche unterteilt sind. Letztere markieren Schwerpunkte, denn die Grundthemen kehren in immer wieder neuen, überraschenden und einander ergänzenden Varianten wieder. Der Argumentationsgang der »Sozio-theologischen Studien« ist primär soziologisch, aber die theologische Grundierung ist unverkennbar und wird im­mer wieder explizit – jedenfalls teilt W. nicht die verbreitete soziologische Scheu vor theologischer Positionierung.
Durch sein Insistieren auf empirische Evidenz trägt W. zum Realitätsbezug der Praktischen Theologie bei. Zugleich bietet er Reibungsflächen insbesondere für Vertreter des »liberalen Paradigmas«, durch sein Faible für die Ortsgemeinde, aber auch für missionarische und kirchenreformerische Freunde neuer Gemeindeformen.
Soziologische Nüchternheit ist bei W. gepaart mit einer Innovationsfreudigkeit, die sich nicht in Strukturen erschöpft, sondern auf »Erneuerung« als »Kern-Kompetenz der Kirche« (73) ausgerichtet ist. Das macht die Lektüre anregend und gewinnbringend.