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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

137–139

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hödl, Hans Gerald, Pock, Johannes, u. Teresa Schweighofer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christliche Rituale im Wandel. Schlaglichter aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht.

Verlag:

Göttingen: Vienna University Press (V & R Unipress) 2017. 266 S. m. 7 Abb. Geb. = Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, 14. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-8471-0778-1.

Rezensent:

Christian Walti

Rituale sind keine unveränderbaren Phänomene, sondern gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausgesetzt. Besonders deutlich wird dies mit Hinsicht auf die Entwicklung christlicher Rituale seit den 1960er Jahren. Messen, Gottesdienste, Konfirmationen, kirch-liche Trauungen, Beerdigungen und Taufen haben sich von unhinterfragbaren Anlässen zu Nischenprodukten mit eingeschränktem Teilnehmendenkreis entwickelt. Zugleich sind neue gesellschaftliche Interaktionsgattungen entstanden, die zwar nur selten explizit religiöse, sicher aber rituelle Charakterzüge aufweisen: Party-Um­züge, »Baby-Showers« und Gedenkfeiern aller Couleur, um nur einige zu nennen. Während diese Entwicklungen ma­krosoziologisch schlüssig als Auswirkungen der Megatrends Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft erklärt werden können, fehlen den kirchlichen Akteuren oft theologische Leitlinien oder argumentatives Rüstzeug zum reflektierten Umgang mit rituellen Veränderungen. Was in der Religionssoziologie im Rahmen der Ritual Studies seit den 1980er Jahren unter den Stichworten »Ritual criticism« (Grimes) oder »Ritualdynamik« (Michaels) verhandelt wurde, dürfte auch für den innertheologischen Diskurs von Interesse sein.
An diesem Punkt setzt der vorliegende Tagungsband an. Die Herausgeber versammeln in ihm zwölf Artikel von Forschenden aus der Religionswissenschaft, der Praktischen Theologie und der Liturgiewissenschaft. Wenn auch die Auswahl der Forschenden und ihrer Forschungsgegenstände etwas zufällig anmutet, sind doch über die Beiträge hinweg einige Grundlinien der Auseinandersetzung mit rituellen Veränderungen im Christentum ersichtlich.
Zunächst wird ein grundlegendes Problem deutlich, das die kirchliche und theologische Auseinandersetzung mit rituellen Veränderungen kennzeichnet: Viele christliche Gemeinschaften verstehen ihre Rituale als normierende Norm religiöser Praktiken, ja des gesellschaftlichen Lebens schlechthin. Während die römisch-katholische Kirche rituelle Veränderungen letztlich nur durch offizielle Beschlüsse konziliarisch legitimieren kann (hierzu Kranemann, Pock und Odenthal), entstehen auch dort, wo scheinbar spontane Feierformen praktiziert werden, sublim transportierte gesellschaftliche Normen. Dies zeigt Rafael Walthert an einem charismatisch-evangelikalen Gottesdienst, der qua technikgestützter Gestaltung emotionale Wirkungen bei seinen Teilnehmenden hervorruft. Walthert legt im Anschluss an Durkheim und Collins schlüssig dar, dass die gesteigerten Emotionen nicht als Gegensatz zur Befolgung einer rigiden Sexualmoral, sondern gleichsam als deren »doppelte Gratifikation« (36 f.) verstanden werden können. Einen ambivalenteren Um­gang mit rituellen Neuerungen scheinen demgegenüber die evangelischen Kirchen zu pflegen. Sie entwickeln ihre Rituale zu­nehmend im Dialog und der Auseinandersetzung mit modernen Teilnehmenden. So legt etwa Ulrike Wagner-Rau an der Haltung der EKD gegenüber multireligiösen Kasualien dar, welche »Gestaltungsaufgabe« sich angesichts der oftmals komplexen religiösen Zuge-hörigkeiten verschiedener Familienmitglieder entsteht. Ähnlich be­schreibt Kirstine Helboe Johansen Gespräche mit Paaren aus Dänemark über deren Traugottesdienste. Dort sind selektive oder individuelle Deutungsmuster bei Heiratenden eine normale Er­scheinung, auch wenn das Ritual kaum Gestaltungsspielraum zu­lässt. Schließlich weist Brigitte Enzner-Probst darauf hin, dass im evangelischen Umfeld schon früh liturgische Subkulturen entstanden sind, besonders im Zuge der feministisch-theologischen Bewegung der 1970er Jahre.
Neben den konfessionell geprägten Forschungsfeldern legen zwei Beiträge den Zeigefinger auf nicht-kirchliche bzw. nachkirchliche Rituale: Teresa Schweighofer tut dies anhand einer groben Bestandsaufnahme des Angebots »freier Rituale« in Österreich und Arnaud Liszka anhand eines Einblicks in seine Studie von nicht-kirchlichen Kirchenbaufördervereinen in Ostdeutschland. In aller Partikularität zeigen beide Einblicke, dass sogenannte »neue Ritu-ale«, ihre Anbietenden und ihre Teilnehmenden mit kirchlichen Ritualen verbunden bleiben. Für die Praktische Theologie drängt sich im Ausgang der Beschreibung solcher Phänomene die Frage auf, wie diese Verquickungen ekklesiologisch zu bewerten sind. Die beiden Beiträge machen wohl am deutlichsten klar, welche Forschungsfelder für die Liturgiewissenschaft und die Praktische Theologie noch zu er­schließen sein werden.
Weniger heterogen wie die Gegenstände der Beiträge sind ihre normativen Implikationen: Konservative Stimmen kommen im vorliegenden Band nicht zu Wort (zurückhaltend resümiert lediglich Odenthal, 229). Da die gesellschaftliche rituelle Norm gemäß den Gesellschaftsanalysen der Beitragenden zunehmend von der kirchlichen Norm abweicht, verwundert es wenig, dass einige der Beitragenden darauf drängen »ein Mehr an Experimentierfreude« (Kranemann, 248) zu ermöglichen oder zumindest die Forschung nicht nur auf den »vorgeschriebenen Weg«, sondern auch den »tatsächlich ge­lebten Weg« (Basilius J. Groen, 261) zu fokussieren. Geovanne Bustos erinnert in seiner Fallstudie aus Papua-Neuguinea daran, dass in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, namentlich bei Ansgar Chagpunco, schon kurz nach dem Zweiten Vatikanum über »Dynamische Äquivalenz« von »kirchlichen« und »kulturellen« Ritualen nachgedacht wurde. Und Enzner-Probst bezeichnet die von ihr beschriebene Subkultur der »Frauenrituale« als »Avantgarde« ritueller Neuerungen, da diese die symbolische Referenz auf ein »allgemein gültiges Gottesbild« durch den »Bezug auf den Körper« (Enzner-Probst, 163) ersetzen würden, was ihrer Meinung nach der Ge­genwartskultur besser entspräche.
Wo die Beiträge empirische Daten heranziehen, beschränken sie sich auf überschaubare, kleine Samples. Nicht unproblematisch werden diese öfters mit epochalen Phänomenen, etwa dem Pluralismus verbunden (reflektiert wird dies bei Wagner-Rau, 186). Es fehlen hingegen Verbindungslinien zu makrosoziologischen Studien, wie etwa denjenigen der Congregational Studies oder dem Religionsmonitor. Ob dies für die liturgiewissenschaftliche Auseinandersetzung mit rituellen Neuerungen charakteristisch ist, bleibt dahingestellt. Auffällig ist aber, dass viele Beiträge (mit Ausnahme von Walthert und Liszka) zwischen empirischen Beschreibungen und theologisch-normativen Aussagen schillern. Während Erstere bisweilen einen banalen Charakter annehmen (»Pfarrer klagen über den geringen Kirchenbesuch.« Groen, 259), erscheinen Letztere öfters unvermittelt (»Insgesamt sind die genannten Beispiele […] ein heilender Beitrag fürs Leben.« Enzner-Probst, 174). Demgegenüber wäre es hilfreich, im von den Herausgebenden angestrebten interdisziplinären Gespräch die Unterscheidung von Normen und Fakten methodisch zu schärfen, gerade weil es sich bei rituellen Phänomenen um faktische Normen bzw. normative Fakten handelt.