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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

136–137

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eisel, Bernhard

Titel/Untertitel:

Schaustellerseelsorge. Lebenswelt und religiöse Wirklichkeitsdeutung der Menschen auf der Reise.

Verlag:

Freiburg u. a.: Kreuz Verlag 2019. 352 S. = Praktische Theologie und Kultur, 27. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-946905-65-3.

Rezensent:

Lars Charbonnier

Der mit dieser Arbeit in Praktischer Theologie an der Universität Tübingen promovierte Bernhard Eisel hat mit dem Fokus auf die Schausteller- und Circusseelsorge einen äußerst spannenden Einblick im Sinne einer »dichten Beschreibung« (7) in eine für viele wohl eher unerschlossene Welt vorgelegt. Hat der Vf. gemeinsam mit den Professorinnen Birgit Weyel und Kristin Merle bereits im Rahmen eines DFG-Projektes dieses Phänomen detaillierter be­schrieben und als kirchliches Handlungsfeld kartographiert, ar-beitet er in diesem Werk die religiöse Dimension des Lebens der reisenden Menschen anschaulich, methodisch kompetent und religionstheologisch höchst aufschlussreich heraus und bietet daraufhin An­schlussmöglichkeiten der weiteren praktisch-theologischen Theoriebildung.
Der Aufbau der Studie ist konzis und erfolgt in sinnvollen Schritten: Ein erstes Kapitel leitet zielorientiert in die Studie und ihre Fragestellung ein, nicht ohne dieses in den Gesamtkontext praktisch-theologischer Religionsforschung einzuordnen und auch das Selbstverhältnis des Vf.s zum Feld zu reflektieren. In den folgenden Kapiteln 2–5 wird das vorliegende Wissen sortiert und analysiert: die kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontexte rund um das Schaustellermilieu, die Spezifika mobiler Lebensweise in ihrer kulturwissenschaftlichen wie praktisch-theologischen Wahr­­nehmung, eine spannende historische Beschreibung des Verhältnisses von Kirche und »fahrend’ Volk« sowie die Darstellung weiterer Rahmenbedingungen wie etwa ökonomischer Strukturen und Gruppenspezifika innerhalb des Milieus – dieses schon hinführend zur empirischen Studie im Blick auf die zugrunde zu legenden Parameter der Erhebung.
Die Ergebnisse der empirischen Erhebung und zuvor die Be­schreibung des Vorgehens dabei werden in den Kapiteln 6–9 vorgestellt. Wobei die Kapitel 6 und 7 Übersichten der Stichproben und Informationen zu den beobachteten Ereignissen und Interviewten versammeln – hier mutet es etwas seltsam an, daraus eigene Kapitel zu machen. Anhand von Beispielen wird dazu dann im Vergleich auch sehr (fast zu?) ausführlich die Auswertungstechnik vorgestellt (Kapitel 8), die methodisch sicher und nachvollziehbar auf der Basis des inhaltsanalytischen Ansatzes der unterschiedlichen Co­dierschritte der Grounded Theory durchgeführt wird. Herauszuheben ist, dass der Vf. nicht nur mit 30 Interviews/Feldgesprächen arbeitet, sondern auch liturgische Handlungen – Eröffnungsgottesdienste, Geschäftseröffnungen usw. – als teilnehmender Be­ob achter in das Material integriert und darum das Interviewmaterial im Kontext dieser betrachteten Ereignisse gesammelt wurde.
Aus empirisch-theologischer Erwartungsbrille betrachtet, folgt dann das Herzstück der Arbeit in der ausführlichen Darstellung der Ergebnisse in Kapitel 9 und den anschließenden theoretischen Schlussfolgerungen in Kapitel 10. Geschickt werden hier die zentralen Themen aus den Analysen des Materials mit aktuellen religionstheologischen Deutungen verknüpft. Neun differente Fälle religiöser Konstrukttypen werden so im Material identifiziert und beispielhaft anschaulich gemacht. Interessant ist, dass diese Fälle auch in einer inneren Logik betrachtet werden können, was im 10. Kapitel entsprechend aufgegriffen wird: Zunächst wird die Besonderheit des Lebens als Schausteller auch und gerade als Konstitutionsgrund reli giöser Deutungen erkennbar, hier vor allem unter dem Stichwort des verzichtvollen Lebens. Darin liegt zugleich die je individuelle Motivationstiefe, die für E. auch religiöse Züge trägt, wenn das Leben als Schaustellerin als »Herzblut« (184) verstanden wird. Besonders gut nachvollziehbar wird aus meiner Sicht der hohe Anspruch an Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung in einem fragilen Ge­werbe, weshalb dann zwar für viele vielleicht überraschend, aber eigentlich auch sinnfällig eine ganze Bandbreite religiöser Muster populärer Frömmigkeit der »Religion auf Reisen« vertreten, gestaltet und kommuniziert wird. Auch die Nähe zur Kirche – in ökumenischer Weite – wird sehr deutlich betont und in ihrer historischen wie biographischen Kontinuität sehr wertschätzend beschrieben. Wie wichtig hier die Rituale in ihren verschiedenen funktionalen Di­mensionen sind, wird deutlich, etwa in auch individuellen Ritua-len der »Zukunftsbewältigung«, allen voran am Schaustellergottesdienst, der nach wie vor wesentliche Funktionen für das sozial-kulturelle Leben auf einem Festplatz/einer Kirmes erfüllt – ganz analog zu den klassischen Funktionen des Gottesdienstes im ruralen Raum, wie der Vf. herausarbeitet.
Eine Promotion darf sich Themen widmen, die neue Felder er­schließen, Randphänomene beschreiben, die nicht für alle in ihrer Relevanz gleich erkennbar sind. Dass sich der Vf. hier in wissenschaftliche Reflexionsdistanz zu einem Feld des Lebens begibt, das er auch aus eigener Erfahrung besser kennt, macht das Buch auch spannend. Ein solcher Fokus muss freilich gerade deshalb und trotzdem aufzeigen, welche mit Blick auf die Theoriebildung der Disziplin verallgemeinerbaren Erkenntnisse diese Fokussierung erlaubt. Das gelingt dem Vf. in seiner Dissertation sowohl mit Blick auf die Seelsorgelehre wie auf die praktisch-theologische Wahrnehmung der gegenwärtigen Deutungsmuster gelebter Religion und der Frage, wie sie auch kirchlich begleitet werden können. Wenn im Zuge zukünftiger Sparüberlegungen die Debatten über den Vorrang parochialer oder personaler Gemeindestrukturen intensiver werden, dürfte diese Studie gute Argumente dafür liefern, wie wichtig kirchliche Begleitung in enger definierten kulturellen Milieus sein kann und wie sehr daraus zugleich auch Erkenntnisgewinne für andere Felder und Milieus erfolgen können. Hier liegt sogar noch mehr Potential in den Ausarbeitungen des Vf.s, etwa in der Frage, wie sich die Einsichten über das Erleben fragiler Rahmenbedingungen unter einem zugleich hohen Leistungsdruck mit existentiellen Bedrohungsdimensionen allgemeiner religiös deuten und religionskulturell gestalten lassen würden. Insofern erfüllt das Buch auch diesen Anspruch: neue und weitere Forschungsdesiderate aufzuzeigen, die über das beobachtete Milieu aus meiner Sicht noch weiter hinausweisen, als es der Vf. selbst formuliert.