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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

130–131

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wacker, Marie-Theres [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wozu ist die Bibel gut? Theologische Anstöße.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 303 S. = Münsterische Beiträge zur Theologie. Neue Folge, 3. Kart. EUR 46,00. ISBN 978-3-402-12314-0.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

In ihrem letzten aktiven Semester vor dem Ruhestand hat Marie-Theres Wacker im Sommersemester 2018 eine Ringvorlesung der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster über die Frage »Wozu ist die Bibel gut?« organisiert. Ihre Frage war: Wenn nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil »das Studium der Bibel als ›Seele der Theologie‹ gilt, […] wie schlägt sich das in der konkreten fachwissenschaftlichen Arbeit nieder?« (7) Vertreter und Vertreterinnen fast aller theologischen Fächer sind ihrer Einladung gefolgt. Der Band gibt so einen exemplarischen Einblick in den Umgang mit der Bibel in der katholischen Theologie der Gegenwart von der Philosophie und Fundamentaltheologie (Klaus Müller, Bernhard Nitsche, Reinhards Hoeps), über die Dogmatik und Ökumenische Theologie (Michael Seewald, Dorothea Sattler), Kirchenrecht (Thomas Schüller), Pastoraltheologie (Reinhard Feiter), Religionspädagogik (Judith Könemann, Clauß-Peter Sajak), Moraltheologie (Monika Bobbert), Christliche Sozialwissenschaften (Marianne Heimbach-Steins), Missionswissenschaft (Norbert Hintersteiner), Liturgiewissenschaft (Clemens Leonhard) und Kirchengeschichte (Hubert Wolf) bis zum Alten und Neuen Testament (Marie-Theres Wacker, Volker Niggemeier, Adrian Wypadlo, Reinhold Zwick).
Dabei überrascht nicht nur die Anordnung der Beiträge (von der Philosophie am Anfang zum Neuen Testament am Ende, wobei gegen den ursprünglichen Verlauf der Vorlesung in früheren Kapiteln immer wieder auf Ausführungen Bezug genommen wird, die erst in späteren Kapiteln des Buches zu lesen sind), sondern es werden auch die unterschiedlichsten Themen traktiert: Der Künstler als Übersetzer (Hoeps), Petrusdienst und Schlüsselgewalt (Sattler, Schüller), Bibel und Bildung (Könemann, Sajak), Elterngebot (Dtn 5,16) und Politische Ethik (Bobbert, Heimbach-Steins), Jesus für die Muslime (Hintersteiner), Kirchengeschichte als Auslegung der Heiligen Schrift (Wolf), Bibel und Film (Zwick), Altes Testament und Frauenforschung (Wacker) und das Recht der Bibel, anders zu sein (Wypadlo). Irgendwie kommt überall die Bibel vor, aber andere Interessen dominieren deutlich und beim Lesen stellt sich mehr und mehr der Eindruck der Beliebigkeit beim Umgang mit der Bibel in den einzelnen Fächern ein.
Das liegt auch daran, dass eine gründliche Reflexion auf das, was mit der Bibel gemeint ist, fehlt. Fast durchweg wird sie als Textsammlung verstanden, die sich durch Vielfalt auszeichnet und auch in ihrem kanonischen Gebrauch vor allem Vielfalt konstituiert und ermöglicht. Dass dies allenfalls die eine Seite einer komplexeren Problematik ist, in der es immer auch um die Einheit des Evangeliums und die Ganzheit der Wahrheit des Glaubens geht, wird nicht mit gleichem Nachdruck betont. Ziemlich unreflektiert wird immer wieder von Bibel, Evangelium, Kanon, Schrift, Wahrheit des Glaubens usf. gesprochen, ohne dass die Unterschiede und Beziehungen zwischen diesen Topoi herausgearbeitet würden. Am besten sind hier die Ausführungen von Nitsche, der die Schrift als Norm des Glaubens erläutert. Er unterstreicht, dass die Tradition »nicht gleichrangig neben der Schrift oder gar gegen die Schrift« steht, sondern »die regula fide als schriftgemäßer Glaubensausdruck und bleibende Orientierung des Glaubensvollzugs der Kirche im Wandel der Zeiten zu sehen« ist (60). Und er betont im Anschluss an Walter Kasper: »Die in der Schrift bezeugte Wahrheit des Glaubens ist zugleich Kriterium für alle lehramtlichen Entscheidungen!« (62) – ein Punkt, auf den auch Sattler (89–98) verweist. Allerdings versteht auch Nitsche das »Ecclesia semper reformanda« so, dass es nicht nur darum gehe, die Kirche »im Lichte des Evangeliums«, sondern auch »im Blick auf die Zeichen der Zeit [zu] erneuern« (63). Damit ist das Tor geöffnet, das in den exegetischen Beiträgen einseitig zur Betonung der Vielfalt der Texte unter weitgehender Ausblendung der Frage nach der Einheit des Evangeliums bzw. der Wahrheit des Glaubens führt und in anderen Beiträgen zur Verknüpfung der Bibel mit allen möglichen anderen Themen, die gegenwärtig Aufmerksamkeit beanspruchen.
Neben einer ganzen Reihe lesenswerter Beiträge gibt es auch solche, die enttäuschen. Das gilt vor allem von Hubert Wolfs Diskussion von Ebelings These, Kirchengeschichte sei als Auslegung der Heiligen Schrift zu verstehen. Wolf denkt ganz in alten Bahnen. Man erfährt, dass während seiner Ausbildung in Tübingen die Bibel »in keinem Haupt-oder Oberseminar aufgeschlagen« worden sei und dass sie auch in keiner Vorlesung eine Rolle gespielt habe. Dann plaudert er vom »Pietkong« (den Pietisten) und räsoniert in altvertrauter Weise über Luther und die Bibellektüre der Bauern (»Die Schrift bezeugt sich für Luther offenbar nicht selbst, wenn einfache Christenmenschen sie zu sich sprechen lassen.« [228]), das Alte Testament in der Zeit des Nationalsozialismus (»Die katho-lische Kirche vertrat hier eine andere und weitaus klarere Position«, 229) und Luthers Rechtfertigungslehre als Fehlinterpretation (der Römer- und Galaterbrief sei nicht als Antwort »auf Luthers Gewissensnöte« zu lesen, 230), mit teilweise abwegigen Urteilen: Dass die New Perspective in der protestantischen Diskussion »weitgehend totgeschwiegen« worden sei (231), kann man nur behaupten, wenn man die einschlägige Literatur nicht zur Kenntnis genommen hat. Vielleicht aber ist ebendas nach wie vor ein Kennzeichen der theol ogischen Situation: dass zu häufig immer noch überkommene konfessionelle (Vor-)Urteile tradiert und die Arbeiten und Forschungsbeiträge der anderen Konfessionstraditionen allenfalls marginal beachtet werden.