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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

129–130

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Führe uns nicht in Versuchung. Das Vaterunser in der Diskussion.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 188 S. = Theologie kontrovers. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-451-38264-2.

Rezensent:

Hans-Christoph Askani

Der von T. Söding herausgegebene Sammelband nimmt Bezug auf die Debatte um die Übersetzung der sechsten Vaterunser-Bitte, die einerseits aufgrund einer neuen (»offiziellen«) Übertragung in französische Sprache und andererseits aufgrund einer Bemerkung des Papstes, der diese begrüßte und eine entsprechende Modifikation auch für andere Sprachen empfahl, in Deutschland entflammt ist.
In der Sache ging und geht es darum, ob die Formulierung »und führe uns nicht in Versuchung« nicht Gott eine Verantwortung für die etwaige Anfechtung des Menschen zuschreibt, die mit Gottes Güte nicht vereinbar ist. So hat man in der Tat bereits in der Alten Kirche die Formulierung dieser Bitte, wie sie im Neuen Testament bei Matthäus und Lukas in der hier diskutierten Passage gleich lautet, als anstößig empfunden und ihr in Übersetzungen und Auslegungen eine abschwächende Wendung gegeben.
Im französischen Sprachraum hat die jahrelange Arbeit einer aus siebzig (!) Spezialisten zusammengesetzten Kommission in die neue Formulierung gemündet: »Ne nous laisse pas entrer en tentation« (»Lasse uns nicht in Versuchung geraten«), womit, wie ganz offen intendiert, das Anstößige der Versuchung nicht nur vom Menschen, sondern auch von Gott ferngehalten werden soll.
Darf dies zweifellos gutgemeinte Anliegen aber dazu führen, die Übersetzung des Vaterunsers zu ändern, und wie verhält sich der Text des Neuen Testaments dazu? Was sind die theologischen und kirchlichen Konsequenzen, die sich daraus ergäben? Diese Fragen stellt und auf sie reagiert das Buch, indem es die Beiträge unterschiedlicher theologischer Disziplinen und unterschiedlicher Konfessionen zu Wort kommen lässt. Die insgesamt elf Aufsätze nehmen alle auf die Übersetzungsproblematik der sechsten Vaterunser-Bitte Bezug, sind aber nicht in gleichem Maße auf sie fokussiert. Es bekommt dem Buch jedoch gut, dass manche Autoren den Bo­gen eher weit spannen, um Ergebnisse ihrer anderweitig geführten Forschungen schließlich auf die vorgegebene Frage zuzuspitzen.
So etwa gibt Christian Frevel einen Überblick über die Versuchung im Alten Testament, die er an verschiedenen Beispielen erläutert, dabei aufzeigend, dass der Begriff der »Versuchung« in vielen Fällen im Sinne einer »Prüfung« (im doppelten Sinne des Wortes) aufzufassen ist, bevor er zu dem theologisch gewichtigen Urteil kommt, dass das »biblische Bild von Gottes Handeln […] die Versuchung selbst(verständlich) einschließt« (44) und dement-sprechend »der Wunsch nach einer Formulierungsänderung der sechsten Vaterunser-Bitte dem Wunsch nach Vereindeutigung und Vereinfachung entspringt« (ebd.). Johanna Rahner, nachdem sie zunächst die Tendenz zur »Entschärfung« (79) der sechsten Bitte kritisch hervorgehoben hat, kommt – über einen »religionstheologischen Umweg«, der in interessanter Weise auf die islamische Mystik eingeht – schließlich zu dem (für mich überraschenden) Schluss, es gäbe »gute systematisch-theologische Gründe, den Wortlaut der Versuchungsbitte zu verändern« (vgl. 93).
Der einleitende Aufsatz des Herausgebers Thomas Söding mündet aufgrund eingehender exegetischer und theologischer Erwägungen ins gegenteilige Fazit. Besonders erhellend in seiner Entfaltung des Problems ist eine Reflexion auf den Status des Bittens. Die Bitte an Gott setzt eben nicht voraus, Gott wolle zunächst das Gegenteil des Erbetenen, also etwa dem Menschen das »tägliche Brot« vorenthalten oder ihn in Versuchung führen. In seinem Bitten stellt sich der Betende vielmehr in einen Raum, der bereits durch Gottes Zuwendung eröffnet ist. »Die Bitten des Vaterunsers sprechen nicht an, was Gott fremd ist, sondern hören sich in ein Wort ein, das er spricht.« (23) Diese Einsicht, hier zunächst in Bezug auf die ersten drei Vaterunser-Bitten formuliert, könnte dem Ringen um das Verständnis der sechsten Vaterunser-Bitte eine gewisse Verkrampftheit nehmen, die sowohl theologisch als auch geistlich höchst unfruchtbar ist.
Einer Öffnung des Horizonts über gegenwärtige Engführungen hinaus dient auch der Blick in die Theologiegeschichte. So geht Michael Beintker in seinem Aufsatz »Versuchung als Anfechtung« insbesondere auf die Theologie der Reformatoren, aber auch die K. Barths ein. Dabei kommt in Erinnerung, dass die Versuchung vom christlichen Glauben gar nicht zu trennen ist. In die Glaubens-Offenheit und Glaubens-Angefochtenheit hinein gehört die Bitte des Vaterunsers, die Gott auf die Versuchung anspricht. »Es geht hier nicht«, schreibt Beintker, »um Moral oder Unmoral, sondern um Gewissheit oder Ungewissheit. Versuchung ist die Ungewiss heit, die sich zwischen Gott und den Glauben schiebt […]. Das Vaterunser kann mit der Brücke verglichen werden, die sich über den Abgrund der Ungewissheit legt.« (122)
Es ist nicht möglich, in einer knappen Rezension auf jeden der elf Beiträge einzugehen. Es sei aber signalisiert, dass der Band bei der Weiterführung der Diskussion, die unzweifelhaft stattfinden wird, gute Dienste leisten kann, weil er eine Vielfalt an Aspekten zur Sprache bringt, ohne deren Berücksichtigung die Frage einer neuen Übersetzung unweigerlich in den Sog gerät, den alten biblischen Text einer gegenwärtigen mehr oder weniger frommen Gefühlslage anzupassen.