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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

125–127

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Keil, Wilfried E., Kiyanrad, Sarah, Theis, Christoffer, u. Laura Willer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zeichentragende Artefakte im sakralen Raum. Zwischen Präsenz und UnSichtbarkeit.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2019. VIII, 366 S. m. 97 Abb. u. 2 Tab. = Materiale Textkulturen, 20. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-061945-4.

Rezensent:

Lukas Ohly

Längst sind religiöse Phänomene auch in ihrem religiösen Charakter nicht nur für Theologie und Religionswissenschaften interessant. Eher scheint die Theologie in interdisziplinären Kooperationen dazu nur eine Nische zu besetzen. Am vorliegenden Band haben zwar auch theologische Sachverständige mitgearbeitet, die allerdings (außer Thomas J. Kraus) in ihrer Hauptdisziplin nicht-theologische Wissenschaft betreiben. Der einleitende Beitrag der Herausgeber hebt vielmehr die Fächer »Ägyptologie, Europäische Kunstgeschichte, Islamwissenschaft/Iranistik, Papyrologie« her-vor (1). Der Theologe wird damit umso neugieriger, wie in diesen Fächern »das Verhältnis von Präsenz und (Un)Sichtbarkeit« (2) auch religiös gedeutet wird. Denn religiös sind nicht nur die behandelten Gegenstände wie Talisman (Valeriya Kozlovskaya/Sergey M. Ilyashenko), Reliquien/Reliquiare (Anne Kurtze), Grabsteine (Gorcin Dizdar) oder Orte wie Gräber (Kurtze, Sarah Kiyanrad/Laura Willer, Melanie Augstein), Moscheen (Daniel Redlinger) und magische Be­friedungen von Räumen (Paline Donceel-Voute, Christoffer Theis). Vielmehr ist für Offenbarungsreligionen die Spannung Sich-Zeigen/Verbergen, manifeste/»restringierte Präsenz« (2) des Heiligen konstitutiv. Könnte es nicht gerade dadurch seine Präsenz zeigen oder steigern, dass es sich fernhält?
Auf die Frage, was (Un-)Sichtbarkeit und Präsenz theologisch sind, bekommt man in diesem Band auch mehrere erhellende Antworten, wenn man sich auf die Methode einlässt, dass seine Beiträge vor allem beschreiben, wie sie gemacht sind, wie also diese Phänomene im Lauf der behandelten historischen Kontexte kulturell und künstlerisch gestaltet worden sind.
Der Band geht auf eine interdisziplinäre Tagung von 2015 eines Heidelberger Sonderforschungsbereichs zurück. Schon die große Materialsammlung an schönen Bildern, die die Texte passend unterstützen, macht darauf aufmerksam, dass es den Beiträgen auf eine Unsichtbarkeit ankommt, die man sehen kann: Das Unsichtbare zeigt sich etwa in Skulpturen als das überwundene Böse, das von guten Mächten gefressen wird (Donceel-Voute, 41 ff.), oder in einem Kreis, der um einen Ort gelegt wird, um ihn einzuhegen (Theis, 59). Es wird neuplatonisch in zweidimensionalen Körperdarstellungen seiner natürlichen, dreidimensionalen Materialität enthoben und damit dem Göttlichen angenähert (Dizdar, 151 f.). Es entzieht sich Blicken, indem es zwar sichtbar, aber von seiner Um­gebung nicht abgehoben ist ( Vera-Simone Schulz, 222 f.) oder nur den Priestern im Gebrauch rituellen Gerätes auffällig werden kann (Johannes Tripps, 332 f.335). Bergkristall hütet mit seiner Transparenz sichtbar Reliquien, die gleichwohl dadurch nur undeutlich wahrnehmbar werden (Kurtze, 310 f.314 ff.).
Mit solchen künstlerischen Techniken – etwas, was eigentlich sichtbar sein könnte, zu verbergen – ist zweierlei möglich: Erstens werden wertvolle Gehalte vor den Blicken von religiösen »Outsidern« geschützt (Kraus, 131), die damit überhaupt in Kenntnis gesetzt werden, Outsider zu sein (122). Das Un-Sichtbare hat eine »apotropäische« (Theis, 55) Funktion, grenzt also ein geschütztes Innen vor einem Außen ab und »kreiert« somit Räume (65). Um als Kundiger die entsprechenden »Bilder im Kopf« zu bekommen, ist ein »kom-plexes Verweissystem« (Redlinger, 280) nötig, das einem erst Zugang zu den Inhalten gewährt (ebd.). Präsenz wird hier also nur ermöglicht, wenn man die Barrieren des Unsichtbaren überwinden kann. Zweitens kann Präsenz auch erst durch seine Unsichtbarmachung er­möglicht werden. So vermutet Tripps, dass Fürbittinschriften, die die Stifter liturgischen Geräts für die Zelebranten auf Patenen und Kelche geschrieben haben, eine »unmittelbare Teilnahme am eucharistischen Opfer, von dem sie leiblich auf Abstand gehalten werden«, gewährleisten sollten (349). Gerade weil diese Inschriften nur bei der Elevation, beim Spülen oder gar nicht lesbar waren (335.346 f.), wurden die Stifter im Mysterium über ihre Namen präsent (332).
Diese Präsenz qua Unsichtbarkeit prägt auch heilige Kräfte: Anne Kurtze zeigt an der Krypta der Essener Münsterkirche, deren Öffnung »außergewöhnlich groß« (322) ist, dass dennoch der »›Herd‹ der Heilswirkung selbst, die Sarkophage, Altäre oder Reliquiare, geschweige denn die Gebeine« dem Betrachter von der Öffnung aus unsichtbar bleiben (323). Nicht das Materielle, sondern seine »Heiligenkraft nach außen« (324) soll damit erfasst werden. Schulz kann künstlerische Verfahren rekonstruieren, mit denen auf Gold eingeritzte Inschriften »dem Blick des Betrachters selbst aus nächster Nähe« entzogen sind (229). Der Zweck dieser Technik sei es, »den Figuren Raum gewähren« zu können (ebd.) oder »Aufmerksamkeitszentrierung und Wahrnehmungssteigerung« (238) zu erzielen. Diese Art der Präsenz durch Unsichtbarkeit scheint mir theologisch erschließend zu sein, weil damit Aufmerksamkeit nicht selbst Wahrnehmung ist, sondern das Sichtbare überhaupt erst sichtbar macht. Offenbarung ist also nicht selbst ein offenbarter Gegenstand, sondern zeigt sich an ihm so, dass sie ihn konstituiert und damit ihre Präsenz manifestiert.
In etlichen Beiträgen wird das Wechselspiel von Un-Sichtbarkeit und Präsenz im Phänomen des Schreibens und der Schrift verdichtet. Schon in der Einleitung wird auf den Unterschied von Schriftlesen und -sehen hingewiesen: »Schrift hat durch ihre Funktion generell etwas, das zum Über-Sehen ihrer Bildhaftigkeit erzieht.« (3) »Bildwissenschaftlich« sei sie »einem Kippbild vergleichbar« (ebd.). Sie kann deswegen auch umgekehrt eine Bedeutung ohne ihren Schriftsinn bekommen. Hierzu gehört das Spiel mit Pseudo-Schriften, die erst ausgesprochen einen Sinn bekommen (Schulz, 230 ff.), aber auch die übermächtige Präsenz arabischer Schriftzeichen an den Fassaden einer Moschee in New Delhi (Redlinger, 275 f.). »Durch die bloße Präsenz des Arabischen manifestiert sich […] das Sinnbild des Wortes Gottes.« (267) Hier jedoch ist es die sichtbare Präsenz der Schrift und eine Absenz des Sinns, während es sich beim Beispiel des »Fremdsprachenerlebnis und Fremdklangerlebnis in vertrauter Schrift« nicht nur um »ein multisensuelles« (Schulz, 232) Erlebnis, also um eine Wahrnehmung, sondern meines Erachtens zugleich um eine Wahrnehmungssteigerung handelt, um eine Entdeckung qua Verschlüsselung.
Zwar sind alle Wahrnehmungen und erfassten Bedeutungen ab­hängig von hermeneutischen Rahmenbedingungen (z. B. im Beitrag von Farnaz Masoumuzadeh, die mit Derrida und Benjamin eine graphologische Theorie entwickelt und auf den Buchstaben Alif anwendet). Dennoch machen etliche Beschreibungen dieses Bandes auch auf die Präsenz des Offenbarungsmoments aufmerksam. Sie sind zwar beide medial vermittelt und benötigen Vorkenntnisse der Rezipienten, um erfasst zu werden (Theis, 61, Dizdar, 144.163). Aber in diesen Vermittlungen geht die Präsenz des Offenbarungsmoments, der »Aufmerksamkeitszentrierung«, nicht auf. Darin liegt der, wenn auch weitgehend unsichtbar präsente, theologische Beitrag dieses Bandes.
Das Buch enthält einen ausführlichen Index, eine übersichtliche Einleitung, methodisch klar gegliederte Beiträge und vermittelt daher einen leichten Einblick in die Thematik. Teilweise zeigen sich auffällige Schriftbildfehler (37.329), die beim Rezensenten die Frage aufwerfen, ob sie ebenso wie Pseudo-Schriften beabsichtigt gewesen sind.