Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

122–125

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gräb-Schmidt, Elisabeth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was heißt Natur? Philosophischer Ort und Begründungsfunktion des Naturbegriffs.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 287 S. m. Abb. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 43. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04158-9.

Rezensent:

Christian Polke

»Die Bestimmung des Naturbegriffs ist die eigentliche Aufgabe der Philosophie« (7) – mit diesem Titat von Charles Taylor beginnt Elisabeth Gräb-Schmidt ihre Einleitung in den hier anzuzeigenden und zu rezensierenden Tagungsband der Fachgruppe Systematische Theologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Wenn dem so ist, dann hat die Philosophie in der Mehrzahl ihrer gegenwärtig vertretenen Spielarten ihr Thema jedenfalls gründlichst verfehlt. Und wie steht es mit der Theologie? Zumal in ihrer deutschsprachigen, protestantischen Gestalt dürften auch hier deutliche Zweifel angebracht sein. Denn mit Ausnahme von Figuren wie Wolfhart Pannenberg, den zumeist übersehenen, unlängst verstorbenen Eberhard Wölfel und allen voran Hermann Deuser, sind naturphilosophische und kosmologische Fragen und ihre fundamentaltheologische Bedeutung für lange Zeit als vorneuzeitlich abgetan worden. Allenfalls in der theologischen Ethik – hier vor allem den Revolutionen in der Biotechnologie und jüngst der Computer Science und KI-Forschung geschuldet – lassen sich zahlreiche Ausnahmen vermerken. Schon von daher ist es zu begrüßen, wenn sich Vertreterinnen und Vertreter der Zunft verstärkt aus fundamental-philosophischen, -theologischen und -ethischen Perspektiven dieser Frage erneut zuwenden.
Der Band umfasst insgesamt elf Beiträge, die sich aus verschiedenen Disziplinen und Teilgebieten (Ethik, Fundamentaltheologie, Dogmatik) mit gegenwärtig diskutierten Themensträngen rund um die Relevanz des Naturbegriffs und seiner Komplementärbegriffe (Rationalität, Technik etc.) beschäftigen. Den Auftakt macht Friedrich Lohmann mit einer Bestandsaufnahme und Reaktualisierung der Naturrechtstradition jenseits der üblichen, schematischen Vorwürfe (vgl. 13–53). Darauf wird gleich noch einzugehen sein. Es folgen Überlegungen von Martin Wendte (vgl. 55–81), die, ausgehend von der Beschreibung der Spätmoderne als einem technologisch gestalteten Zeitalter der Zeit- und Raumschrumpfung, eine hierzulande weniger prominente, reformorientierte Deutung des Technikverständnisses des späten Heideggers mit einer Relektüre von Luthers Theologie (insbesondere in der Schrift »Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis« [1528]) als Gabetheologie verknüpft. Dies dient dazu, einer – in meinen Worten – zeitentschleunigten und raumsensiblen Theologie und Ethik, nicht zu­letzt des Sonntags, das Wort zu reden. Dass zu einem adäquaten Gegenwartsverständnis von Rolle und Funktion des Naturbegriffs insbesondere die zunehmend wichtigen ethischen Fragen um das Verhältnis von Mensch und Maschine sowie Mensch und Tier gehören, machen die folgenden Beiträge deutlich. Christian Schwarke (vgl. 83–95) beschäftigt sich damit, wie sich unser Selbstbild durch technische wie technologische Innovationen verändert, und zwar unter der Prämisse, dass Technik selbst nicht einfach nur zur zweiten Natur wird, sondern selbst Natur in einem verwandelten Sinne ist. Dass sie dabei zudem eine innere Transzendenzdimension aufweisen kann, illustriert er an Exponaten einer seinerzeit berühmten Ausstellung zum Maschinenzeitalter 1927 in New York (vgl. 87 ff.) Bündeln lassen sich Schwarkes Analysen in der These, wonach im »Prozess der Technisierung […] der Naturbegriff das gleiche Schicksal wie der Gottesbegriff und der Seelenbegriff [erleidet]. Er wird stets abstrakter und in diesem Sinne transzendenter« (94).
Die folgenden beiden Aufsätze sind der Tierethik gewidmet. Anne Käfer (vgl. 97–117) votiert dabei in prinzipieller Hinsicht und von der schöpfungstheologischen Überzeugung geleitet, wonach »Würdebegabtheit« (116) zu Rechtsansprüchen führt, für eigene Tierrechte. Martin Langanke (vgl. 119–155) geht dann folgender Frage nach: Gesetzt den Fall, man unterschreibt eine Natur-Kultur-Differenz im klassischen Sinne und unterscheidet zudem zwischen Zuchtformen und wildlebenden Formen, unterlägen dann Tierversuche an Ersteren einem »prinzipiell geringeren ethischen Rechtfertigungsbedarf« (154) als Versuche an wildlebenden Arten? Die Antwort fällt klar negativ aus. In seinen Ausführungen bezieht er sich hierfür auch auf frühe Klassiker der Tierethik, nämlich Arthur Schopenhauer und Leonard Nelson (vgl. 125 ff.130 ff.). An beiden Argumentationen könnte man nun (kritisch) aufzeigen, in welche Fahrwasser man gerät, wenn man allzu stark auf die Weitung ursprünglich an anthropologischen Phänomenen orientierter Begrifflichkeiten (wie etwa Abwehrrecht etc.) setzt. Das aber müsste en détail ausgeführt werden. Während nun Cornelia Richter sich in ihrem Beitrag (vgl. 157–173) damit beschäftigt, wie unser Selbst stets nur als ein Balanceakt zwischen naturalen und kulturellen Facetten in Physis und Psyche verstanden werden kann, wozu sie u. a. auf das Phänomen der Resilienz rekurriert (vgl. 161 ff.), widmen sich Thomas Kirchhoff (vgl. 175–194) und Christoph Baumgartner (vgl. 195–210) vor allem den Naturkonzeptionen und -vorstellungen, wie sie als Deutungsmuster sowohl ökologische Ansätze als auch ethische Überlegungen zu den Pflichten gegenüber künftigen Generationen im Zeitalter des Anthropozäns prägen. Nach Thomas Wabels Aufsatz (vgl. 211–240) über das Verhältnis von Natur- und Selbstverständnis schließt der Band mit zwei Beiträgen, die sich stark kritisch mit den unterschiedlichen Naturalismen sowohl als Methodologien als auch als Weltanschauungen auseinandersetzen. Dirk-Martin Grube (vgl. 241–275) setzt sich in seinem Text vor allem mit den Wirkungen neo-darwinistischen Denkens, vor allem im Umfeld und der Rezeption eines Richard Dawkins, auseinander. Naturalismus ist für ihn sowohl eine kog-nitive als auch eine ethische Kategorie, dessen Siegeszug er vor allem durch den Relevanz- und Positionsgewinn der Naturwissenschaften im anglo-amerikanischen Raum beschleunigt sieht.
Abschließend fragt Hans-Dieter Mutschler, ob man die Natur selbst naturalisieren kann. Dieses Problem wird in seinem etwas zu grobschlächtig geratenen Aufsatz (vgl. 277–285) in Durchgang und Kritik ausweichender Positionen, wie der eines »weichen Naturalismus« (u. a. Habermas), und vordergründig skurril anmutender Ansätze, wie Thomas Nagels »Protopanpsychismus« (277) verneint. Immerhin, die Titelfrage des Aufsatzes fällt nicht mit der derzeit vielleicht noch prominenteren Frage, nämlich ob der Mensch naturalisierbar sei (283), zusammen. Aber was im Grunde fehlt, ist die Analyse jener Leitdifferenz, die auch Mutschlers Aufsatz leitet, diejenige zwischen einem methodologischen und einem weltanschaulichen Naturalismus. So gute Gründe es für die Kritik an Letzterem gibt – und die haben wenig mit verzerrten Übersimplifizierungen scholastischer Naturrechtslehren (vgl. 283) zu tun –, so wenig Alternativen bieten sich doch auf einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Gebieten für den Ersteren.
Zwei Texte wurden bislang nicht besprochen. Friedrich Lohmanns Beitrag zur Rolle und Funktion des Naturrechtsdenkens und Thomas Wabels Interpretation von Kants Naturästhetik und Teleologie im Lichte schöpfungstheologischer Implikationen. Beide Aufsätze stellen die gewichtigsten theologischen Abhandlungen dieses Bandes dar. Lohmann ist ein ausgewiesener Kenner und Verteidi-ger einer Naturrechtstradition, die es jenseits von Plattitüden und schablonenhafter Kritik auch für die protestantische Theologie und Ethik wiederzugewinnen gilt. Im Durchgang durch drei Typen von Naturrechtsdenken, die sich als ontologisch (im Sinne einer »unwandelbaren Seinsordnung« [vgl. 21 ff.]) einerseits und als freiheitstheoretisch sowie als an der Geschichte orientiert andererseits qualifizieren lassen, gelingt es ihm, die pragmatischen Grundlagen für ein »kriteriologisches Naturrecht« (52) auszumachen. Dessen Orientierungsfähigkeit zeigt sich nicht zuletzt auf dem Gebiet der Ethik und Politik von Menschenrechten sowie im normativen Verständnis von Grundrechten. Im Sinne einer universal geltenden Grenzziehung wird an diesen Orten das, was zugunsten jedes Menschen der Verfügung durch (andere) Menschen entzogen ist, bestimmt. Daraus lassen sich (ein bedürfnisorientiertes) Menschenwürdekriterium und ein Diskriminierungsverbot schlussfolgern: »Das ›natürlich‹ Unbeliebige besteht in d[en] Bedürfnissen, über die sich keine staatliche, menschengemachte Ordnung hinwegsetzen darf, will sie nicht in die Barbarei zurückfallen. Eine solche Unterscheidung von Unbeliebigem und Gemachtem, die als Grenze menschlich-rechtlicher Willkür fungiert, ist innerhalb des Korpus der Menschenrechte noch einmal besonders in einem der Rechte markiert: dem Recht auf Schutz vor unangemessener Diskriminierung« (46).
Thomas Wabel wiederum geht es in seinem Beitrag über Naturverständnis und Selbstverstehen darum, über den Zusammenhang von beidem auch die Relevanz schöpfungstheologischer und darin theologisch-anthropologischer Deutungsmuster aufzuzeigen. Dass ihm dabei Kant, vor allem in dessen dritter Kritik (der Urteilskraft), als Kronzeuge behilflich ist, sollte jedenfalls all diejenigen zur Vorsicht gemahnen, die ausgerechnet mit Blick auf den großen Königsberger den Abschied von Naturphilosophie propagieren. Über eine prägnant gehaltene Analyse des Zusammenspiels von teleologisch konzipiertem Naturverstehen im Zeichen des ›Als-Ob‹ und der dar an anschließenden Ästhetik (von Natur und Kultur) – provoziert auch durch Aufnahmen gewichtiger Kantinterpretationen, u. a. seitens Volker Gerhardts – gelangt Wabel zur These: »Die teleologische Naturbetrachtung ist […] für Kant nicht lediglich eine verzichtbare Zutat, sondern sie ist unabdingbar für das Selbstverständnis des Menschen in der belebten Natur […] Indem sich der Mensch als in die Welt passend erfährt, erweist sich das Verständnis der Natur als Grund und Grenze menschlichen Selbstverstehens.« (229) Über Kants Einsichten (z. B. über das Erhabene) hinaus zeigt sich gerade darin, dass für eine nicht fälschlich naturalisierende Schöpfungstheologie der Begriff der Grenze – ganz ähnlich wie in den fundamentalethischen Überlegungen von Lohmann – zentral wird. Denn: »Die religiöse Wahrnehmung der Natur schließt die Gebrochenheit der Naturerfahrung und die Fragilität menschlicher Existenz ein. Der Begrenzung des Lebens entspricht ein theologisch qualifiziertes Verständnis der Begrenzung menschlicher Möglichkeiten.« (237)
Der Titel des Bandes ist wohlgewählt. Er lautet nicht: »Was ist Natur?«, sondern »Was heißt Natur?« Mit dieser Distanznahme verortet er sich nicht nur zu Recht in nachmetaphysischen Gefilden, sondern er macht auch auf das hermeneutische Grundproblem des Naturbegriffs als einer Reflexionskategorie aufmerksam. Zugleich verrät das thematisch breite Spektrum ausgerechnet durch eines seiner »blinden Flecken« auch etwas über den nach wie vor enormen Nachholbedarf deutschsprachiger Theologie in Fragen von Kosmologie und Naturphilosophie. Weder findet sich in ihm ein Beitrag, der sich mit der evolutionsanthropologisch fokussierten Naturgeschichte von Religion beschäftigt, noch kommt man auf die vielen nicht-reduktionistischen, sondern genuin religiösen Naturalismen zu sprechen, wie sie insbesondere in den USA mittlerweile nicht nur das prozess- und liberaltheologische Lager dominieren. Hier verdankt sich eine religiös, theologisch und bisweilen sogar metaphysisch relevante NATUR (in Großbuchstaben) auch dem Nachdenken über die Grenzen und Chancen naturwis senschaftlich beschreibbarer Wirklichkeitsperspektiven. Die ge­nannten Desiderate sind weniger als Manko des Bandes denn als Beleg für eine hierzulande immer noch einseitige Diskurslandschaft zu begreifen.
Will die Theologie somit nicht in gleicher Weise wie die Philosophie das Thema der Natur, welches doch mindestens ebenso ein ihr Eigentümliches darstellt, verfehlen, dann kann man diesen Band vor allem als Aufschlag und Anreiz zu weiterer Beschäftigung mit dem Naturbegriff, seiner wissenschaftlichen Relevanz und weltanschaulichen Produktivität lesen. Selten darf in Zeiten einer immensen Flut von Tagungsbänden einmal der Wunsch nach weiteren Tagungen und ihrer Dokumentation geäußert werden. Aber in diesem Fall scheint es gerechtfertigt.