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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

109–111

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Carl, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Welt und Selbst beim frühen Heidegger.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. VII, 232 S. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-061325-4.

Rezensent:

Thomas Rentsch

Wolfgang Carl analysiert zunächst die ersten Untersuchungen Heideggers zum »Selbst des faktischen Lebens« (1–87) vor allem in den frühen Freiburger Vorlesungen der Jahre 1919–1923. Es geht Heidegger um das Erfassen des primär praktischen »natürlichen Lebensbewußtseins« (10), des Lebens in der Welt, das »bedeutsamkeitsgefangen« (18) ist. Damit antizipiert er die späteren Lebensweltanalysen seines Lehrers Husserl (21). »Umwelt«, »Mitwelt« und »Selbstwelt« werden differenziert (23), die Untersuchung zielt auf das menschliche »Sichselbsthaben« (30), auf die »Bekümmerung des Selbst« (40–72), die die Grundlage für die spätere »Hermeneutik der Faktizität« bildet (41).
Die frühe Kernthese lautet: »Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst ist die Urwirklichkeit« (49). Hier spielt auch der Begriff der Spontaneität eine wichtige Rolle (50), so in der Nachschrift Becker (64), ebenso der Begriff des lebendigen Selbst, so in den Anmerkungen zu Jaspers (65). Es handelt sich mit Thomä um eine »transzendentale Epistemologie der ersten Person Singular« (67). An dieser Stelle sei kritisch angemerkt, dass die sehr immanente Darstellung C.s durchaus den Bezug des Spontaneitätsbegriffs auf Kants Erkenntnistheorie und seine Analyse des transzendentalen Schematismus hätte verdeutlichen können. Das gilt auch für den wichtigen Einfluss des Neukantianismus, insbesondere den von Emil Lask, auf den frühen Heidegger.
Im folgenden Abschnitt über die »phänomenologische Frage nach dem Ursprung« (72–87) werden die systematischen Probleme akzentuiert, die mit Begriffen wie der »Selbstgenügsamkeit« und der »Alltäglichkeit« verbunden sind und die im Folgenden geklärt werden sollen. Dazu dient zunächst das Kapitel »Das Selbst des alltäglichen In-der-Welt-seins« (88–157). Es wird deutlich, dass die spätere Gleichursprünglichkeit des In-der-Welt-seins bereits ganz früh, als »Unauflösbarkeit«, von Heidegger gedacht wird (95 f.). Die systematische Nähe der Alltäglichkeitshermeneutik zu Wittgensteins Alltagssprachanalyse wird kurz erwähnt (110). Dann untersucht C. die Genese des »Verfallens« in der Alltäglichkeit und die der Uneigentlichkeit (115 ff.) und der Eigentlichkeit (119), des Ich-Selbst und des Man-Selbst. C. kritisiert die Ansätze von Dreyfus und Carman, dann Tugendhats Interpretation von Man und Eigentlichkeit. Er zeigt auf, wie die Verbindung von Eigentlichkeit und Ganzseinkönnen (147) zur Todesanalyse führt (150). Gut nachvollziehbar kritisiert er den schematischen Dualismus von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit (155) und die Abwertung der Alltäglich keit.
Im Schlusskapitel wird Heideggers Analyse des Sichselbsthabens in einer Welt in den frühen Vorlesungen mit den gegenwärtigen sprachphilosophischen Indikatorenanalysen systematisch-methodologisch verglichen (158–225). Zunächst erfolgt der Vergleich mit Perrys Theorie des Selbst und mit dessen Analysen zu Person und Rolle und zu den Sprachformen de dicto, de re und de se (171–194). Im Folgenden werden normative Konzeptionen des Selbst thematisiert, die Schlechtman (195–200) und Dennett (200–207) entwickelten, ebenso die Ansätze von Frankfurt und Pothast zum konstituierten Selbst und die Konzeptionen zu den verschiedenen Selbst einer Person von James und Neisser (213–223). Ein abschließender Vergleich mit Heideggers früher Systematik rundet das Buch ab (223 ff.).
Der Abschluss akzentuiert die systematische Stärke des An­satzes des frühen Heidegger angesichts der diskutierten sprachanalytisch-mentalistischen Positionen der Gegenwart. C. be­mängelt auch, dass die Leistung Heideggers in diesen Positionen überhaupt nicht mehr bewusst ist, ja nicht einmal erwähnt wird. Die frühen Vorlesungen sind nicht bekannt. Zentral ist in diesen die Gleichursprünglichkeit des Selbstseins, des Mitseins mit den Anderen und des In-der-Welt-Seins, die stets alle zusammen die faktische moralische Lebenserfahrung ermöglichen und so konstitutieren. »Meine Lebenserfahrung ist eine Erfahrung von etwas, das mit bekannt und vertraut ist und ich habe mich in dem, was ich erfahre, weil ich in der Welt lebe, zu der dasjenige gehört, was ich erfahre. Das Selbstbewusstsein ist für Heidegger ein Verstehen, das Personen von ihrem Leben haben; und dieses Leben ist wesentlich ein Leben in einer mit Anderen gemeinsamen Welt.« (224).
Demgegenüber ist der Ansatz von Perry mentalistisch-subjektzentriert, die narrativen Auffassungen des Selbstseins ebenfalls autobiographisch-unklar, denn sie explizieren keine Kriterien für das Selbstsein-Können. Auch Frankfurts Rekurs auf unser Wollen, unsere Gefühle und Meinungen kann unsere Lebenserfahrung nur unzulänglich klären. Auch der Ansatz von Neisser, das Selbst einer Person durch ein Kompositum von Aspekten zu identifizieren, erscheint reduktionistisch. Heideggers Ansatz des Sichselbsthabens in einer Welt ist dagegen »polyzentrisch«, die Umwelt wird ebenso einbezogen wie das Miteinanderleben mit Anderen und die Interaktion mit ihnen. Die neutrale Ebene des Einzelnen wird durch den Einbezug dieser konstitutiven Aspekte begreifbar (225).
Die sehr genaue Analyse und Interpretation der frühen Texte Heideggers durch C. zeigt wichtige systematische Potentiale auf, die bis heute noch höchst relevant sind. Das wird insbesondere deutlich durch den Vergleich von Heideggers Ansatz mit gegenwärtigen sprachanalytischen Positionen, die stark mentalistisch-subjektzentriert ausgerichtet sind, während Heidegger den Weltbezug und das Mitsein-mit-Anderen konstitutiv mit einbezieht. C. erwähnt, wie gesagt, kurz die Nähe von Heideggers Analysen des alltäglichen Lebens zu den Alltagssprachanalysen Wittgensteins. Er hätte noch deutlicher darauf hinweisen können, dass die an Wittgensteins Philosophie anknüpfenden Theorien der Gegenwart stark durch dessen Kritik einer Privatsprache und eines subjektiven Mentalismus geprägt sind (so bereits Ryle) und dass die Nähe Heideggers zu Wittgenstein bezeichnend ist (vgl. T. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003).