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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

103–105

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Molina, Luis de

Titel/Untertitel:

Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52. Lateinisch – Deutsch. Eingel., übers., komment. u. hrsg. v. C. Jäger, H. Kraml u. G. Leibold.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2018. CLXXVIII, 283 S. m. Abb. = Philosophische Bibliothek, 695. Lw. EUR 48,00. ISBN 978-3-7873-3023-2.

Rezensent:

Christian Weidemann

Die katholischen Theologen des ausgehenden 16. Jh.s teilten zwei Grundüberzeugungen. Im Gegensatz zu Luther und Calvin glaubten sie, dass die göttliche Gnade mit einem freien, sich zu ihr in bestimmter Weise verhaltenden menschlichen Willen verträglich sei. Zugleich hielten sie jedoch, im Gegensatz zum heute populären »offenen Theismus«, die Vorstellung für absurd, Gott könne im Verlauf der Menschheitsgeschichte Überraschungen erleben, ja müsse gar improvisieren und seine Pläne unvorhergesehenen Geschehnissen anpassen. Die Schwierigkeit bestand darin anzugeben, wie menschliche Freiheit und göttliche Allwissenheit/Souveränität sich vereinbaren lassen. Es entflammte der berühmte Gnadenstreit, in dem Dominikaner und Jesuiten sich bekriegten, bis Papst Paul V. ihnen 1607 die gegenseitige Verketzerung untersagte. Die dominikanische Position wurde von Domingo Bañez (1528–1604) entwickelt und später von einigen Ordensbrüdern (vor allem Diego Álvarez) verfeinert. In nuce besagt sie, dass der freie Wille des Menschen zwar als Zweitursache heilsrelevante Handlungen bestimme, dabei aber durch die göttliche Erstursache prädeterminiert sei ( praemotio physica), und zwar in unfehlbarer Weise. Es gelte notwendig: Wenn Gott will, dass wir seine Gnadenhilfe aus freien Stücken annehmen, dann nehmen wir sie aus freien Stücken an. Die dominikanische Position ähnelt kompatibilistischen Theorien, die freie Handlungen in physikalisch determinierten Universen für möglich erklären, solange bestimmte Bedingungen (z. B. das Geleitet-Werden durch Gründe, die Abwesenheit von äußerem Zwang) erfüllt sind (Hobbes, Levia-than [1651], Kapitel 21). Die Jesuiten wandten gegen die dominikanische Theorie ein, dass eine Handlung, bei der dem Subjekt keine Alternative offenstehe, nicht »frei« genannt zu werden verdiene (Libertarismus). Dabei stellte sich ihnen folgendes Problem: Falls für jede freie Entscheidung gilt, dass bis zu ihrem Gefällt-Werden (ontologisch) offen ist, wie sie getroffen wird, wie kann Gott dann bei der Schöpfung um den tatsächlichen Ausgang wissen und ihn in seiner Vorsehung berücksichtigen?
In seinem abkürzend »Concordia« (1588) genannten Hauptwerk gibt Luis de Molina (1535–1600) eine Antwort auf diese Frage, die von den Herausgebern des vorliegenden Bandes zu Recht zu den »ingeniöseste[n] Versuche[n]« gezählt wird, »die [je] zum Thema Willensfreiheit […] in der Geschichte der Philosophie und Theologie vorgelegt wurden« (VII). Umso erstaunlicher ist es, dass die Concordia bislang nicht einmal in Auszügen auf Deutsch zugänglich war. Die Edition ist nicht nur deshalb ein Glücksfall. Sie lässt philologisch, historisch und systematisch kaum einen Wunsch offen. Geboten wird der lateinische Text der zentralen 52. Disputation plus textkritischem Apparat (weitgehend der Ausgabe von Rabeneck [1953] folgend), daneben eine exzellente deutsche Übertragung. Strittige Übersetzungsentscheidungen werden im Kommentar auf transparente und instruktive Weise erläutert. Die 165-seitige Einleitung Christoph Jägers liefert eine Einführung in die historischen Umstände des Gnadenstreits und eine – mindestens im deutschen Sprachraum – konkurrenzlose Darstellung der Vorgeschichte des in ihm verhandelten Problems von Aristoteles bis Ockham. Von großem Interesse ist auch, wie Jäger den molinistischen Vorschlag gegen klassische und neue Einwände zu verteidigen sucht (s. u.). Der ausführliche Kommentar erläutert die von Molina benutzten Begriffe, rekonstruiert seine Argumente, bettet sie in den historischen Kontext ein und liefert wichtige Referenztexte in teils neuer deutscher Übersetzung und in Originalsprache. Dem Reichtum der von den Herausgebern vorgebrachten Beobachtungen kann ich hier nicht einmal im Ansatz Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der Band wird abgerundet durch Literaturverzeichnisse und Register.
Worin bestand das Revolutionäre der molinistischen Position? Die 52. Disputation unterschiedet drei Arten von Wissen in Gott: Mittels seines natürlichen Wissens weiß Gott, welche Sachverhalte notwendig, welche unmöglich und welche möglich sind. Mittels seines freien Wissens kennt er seinen eigenen Willen und weiß, was infolge dieses Willens (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) wirklich ist. Durch sein mittleres Wissen (scientia media) weiß Gott, was freie Kreaturen in beliebigen möglichen Situationen tun würden. Zweierlei ist entscheidend:
1) Sowohl der Inhalt des natürlichen als auch der Inhalt des mittleren Wissens sind dem Einfluss Gottes enthoben. Gott kann nicht nur nichts an logisch oder metaphysisch notwendigen Wahrheiten ändern – was die Dominikaner zugestanden –, er hat auch keine Kontrolle darüber, wie freie Wesen sich in bestimmten Situationen entscheiden (würden).
2) Das freie Wissen Gottes ist seinem mittleren Wissen explanatorisch nachgeordnet: Aufgrund seines natürlichen Wissens weiß Gott, was Akteure in bestimmten Situationen tun könnten, aufgrund seines mittleren Wissens, was sie täten. Erst im Lichte dieses Wissens richtet Gott seine Schöpfung ein und entscheidet, welche Akteure und welche Situationen er wirklich werden lässt.
So glaubte Molina beides haben zu können: freie, von Gott nicht kontrollierbare, menschliche Entscheidungen zwischen echten Al­ternativen bei gleichzeitiger, die kontingente Zukunft einschließender Allwissenheit Gottes. Gott bleibt außerdem souveräner Planer der Geschichte, da es allein bei ihm liegt, welche Wesen und Entscheidungssituationen er schafft.
In seiner Einleitung diskutiert Jäger eine Reihe von Einwänden gegen Molinas Konzeption. Die zwei wichtigsten: a) Der Molinist nimmt an, dass Gott in der Schöpfungssituation die Wahrheit kontrafaktischer Freiheitskonditionale (»Wenn Person P sich in Situation S befände, entschiede sie sich frei, X zu tun«) weiß. Doch worin soll die Wahrheit solcher Konditionalaussagen gründen? Sie kann nicht auf den Willen Gottes zurückgehen, denn dann wären die betreffenden Handlungen (jedenfalls laut Molina) nicht frei. Sie kann aber auch nicht im Willen der Akteure gründen, von denen in den Aussagen die Rede ist, denn diese Akteure existieren im Schöpfungsmoment nicht und werden (abhängig von Gottes Ratschluss) unter Umständen sogar niemals existieren. b) Laut Molina weiß Gott z. B., wie ich mich entschieden hätte, falls mir vor einem Jahr zwei Millionen Euro angeboten worden wären, um für eine rechtsextreme Partei zu kandidieren. Doch wenn ich frei bin, so muss offenbar gelten, dass ich mich womöglich für und womöglich gegen das Angebot entschieden hätte. Wie passt diese Unwägbarkeit mit Gottes angeblich unfehlbarem Wissen um kontrafaktische Freiheitskonditionale zusammen?
Ich kann hier die vielen scharfsinnigen und den komplexen Stand der gegenwärtigen Forschung abbildenden Erwägungen Jägers zu diesen Problemen nicht diskutieren. Ein wichtiges Ge­genargument: Die beiden obigen Einwände unterstellen, dass kontrafaktische Freiheitskonditionale nicht wahrheitsfähig sind, mithin nicht gewusst werden können. Aber Menschen äußern im Alltag beständig Sätze wie »Hätte ich den Bäcker um ein Brötchen gebeten, hätte er es mir aus freien Stücken verkauft«, von deren Wahrheit sie völlig überzeugt zu sein scheinen. Der Antimolinist schuldet uns, so betont Jäger zu Recht, eine Theorie darüber, wie es zu diesem vermeintlichen Irrtum kommt. Meine tentative Antwort: Der Bäcker verkauft seine Brötchen zwar »aus freien Stücken«, aber es ist unklar, ob bei solchen Routinehandlungen Entscheidungsfreiheit vorliegt. Anders sieht es bei kontrafaktischen Situationen aus, in denen nicht-triviale, lebenswichtige oder heilsre-levante Entscheidungen zur Debatte stehen: »Hätte ich die Be-stechungssumme angenommen, V. trotzdem geheiratet, meinen Glauben aufgegeben etc., falls gewichtiges Ereignis X eingetreten wäre?« Mehr als bloß wahrscheinliche Antworten auf solche Fragen sind mit dem Wesen libertarisch gedachter Freiheit unverträglich. Molinas Konzeption mittleren Wissens ist daher, so meine ich, untauglich, um das eingangs genannte Dilemma zu lösen.
Das schmälert jedoch nicht das intellektuelle Vergnügen, das die Lektüre dieses bewunderungswürdigen Buchs bereitet. Wie sagte ein Zeitgenosse und Landsmann Molinas: »Die Freiheit, Sancho, ist eines der köstlichsten Geschenke, welches der Himmel nur immer den Menschen verliehen hat«. Und eines der geheimnisvollsten.