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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

96–98

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Voß, Klaas-Dieter

Titel/Untertitel:

Das Emder Religionsgespräch von 1578. Zur Genese des gedruckten Protokolls sowie Beobachtungen zum theologischen Profil der flämischen Mennoniten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 704 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 50. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05435-0.

Rezensent:

Volkmar Ortmann

Dass die kritische Sichtung archivalischer Quellen mehr ist als his­torisches Handwerk und die Auseinandersetzung mit theologischen Kontroversen, namentlich der Reformationszeit, für aktuelle gesellschaftliche wie theologische Diskussionen hilfreich sein kann, zeigt die hier zu besprechende Arbeit von Klaas-Dieter Voß. Sie wurde im Wintersemester 2016/17 von der Carl von Ossietzky Universität als Dissertation angenommen und von Andrea Strübind betreut. Der Vf. ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden tätig und hat bereits verschiedene Studien zu Protagonisten des Gesprächs sowie zur Regional- und Kirchengeschichte Frieslands vorgelegt, die als Vorarbeiten zur vorliegenden Untersuchung gelten können.
Die Frage nach der Authentizität des veröffentlichten Protokolls steht für ihn zunächst im Vordergrund, womit er das von Corne-lius Krahn 1956 formulierte Forschungsdesiderat aufnimmt und zugleich die bisherigen Forschungen mit einem Fragezeichen versieht, die sich auf das gedruckte Protokoll stützen. Diese zentrale Zielsetzung der Arbeit führt dann aber zu weitergehenden Fragestellungen, und wie sich im Untertitel der Arbeit bereits andeutet, kommt der historische wie auch der theologiegeschichtliche Kontext des Emder Religionsgesprächs mit in den Blick.
Das führt zunächst zu einer ausführlichen Beschäftigung mit den Protagonisten des Gesprächs, angefangen bei Menso Alting, als den zentralen Personen, den weiteren reformierten (calvinistischen) und täuferischen (mennonitischen) Theologen, den Juristen, die das Gespräch präsidierten sowie den Protokollanten. Diese kompakten und profunden biographischen Darstellungen machen die Untersuchung zu einer biographischen Informationsquelle mit mehr als nur regionaler Bedeutung, auch wenn deutlich wird, dass über die täuferischen Gesprächsteilnehmer nur wenig Greifbares überliefert ist. Dieses erkennbare historische Defizit stellt die Frage nach dem täuferischen Geschichtsbewusstsein, macht aber vor allem deutlich, wie sehr Historiographie bereits in ihrem Quellenbestand Macht- und Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt.
Es ist das große Verdienst des Vf.s, den vorhandenen Quellen mit hoher Sorgfalt nachzuspüren und sie dann äußerst kenntnisreich und differenziert auszuwerten. Dabei schreibt er die bereits vorhandenen Forschungsergebnisse sehr kritisch, aber konstruktiv fort. Es gelingt, die umfangreiche Zielsetzung immer im Auge zu behalten: Die verschiedenen Fäden werden jeweils stringent verfolgt und am Ende in einem Fazit mit großer inhaltlicher Sicherheit strukturiert zusammengeführt.
Der Schwerpunkt und der besondere Wert der Arbeit liegen in der Rekonstruktion des Emder Religionsgesprächs. Dazu werden die jeweiligen Gesprächsgänge mit den Beiträgen der Dialogpartner aus den Akten wiedergegeben, darüber hinaus aber auch in ihren jeweiligen theologischen Kontext eingeordnet. Jedem theologischen Diskussionspunkt wird zunächst die Position Menno Simons vorangestellt, so dass die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den Positionen der in Emden anwesenden Täufer ebenso wie zu den reformierten Predigern erkennbar werden. Diese kritische Darstellung der Zusammenhänge lässt die Atmosphäre des Gesprächs nachempfinden und ermöglicht es, sich über den Verlauf sowie die jeweils vorgetragenen Positionen ein eigenes Urteil zu bilden.
Die Themen umfassen dabei nahezu alle Aspekte, die in den kontroverstheologischen Gesprächen des 16. Jh.s relevant waren, wurden aber gezielt im Vorfeld des Gesprächs zwischen den Parteien vereinbart: Sie reichten von der Trinitätslehre über die Christologie zur Rechtfertigungslehre und zur Bedeutung der Werke bis hin zur Eschatologie. Gemeindezucht, Ekklesiologie und die Stellung der Prediger, das Verhältnis zur Obrigkeit und die Eidesleis-tung gehörten ebenso wie Abendmahl und Taufe zu den strittigen Punkten. Die Breite der Themen sowie der Umfang der Diskussionen unterstreichen hier wie in anderen Gesprächen mit Täufern, dass die Fokussierung auf die Taufe eine zwar markante und relevante Zuspitzung, letztlich aber eine Verkürzung darstellt, die dem Anliegen der Täufer keineswegs gerecht wird.
Christologische Aspekte wie die Menschwerdung Christi, die zugleich trinitätstheologische Fragen beinhaltete, oder die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung sowie die Gemeindezucht ebenso wie die Stellung zur weltlichen Obrigkeit treten in ihrer kontroverstheologischen Relevanz klar hervor. Ohne dass dies ein expliziter Diskussionspunkt war, geht es immer wieder um die zutreffende Auslegung und damit die Hermeneutik der Bibel (besonders 280–290).
Wenn dann seitens der reformierten Prediger gegenüber den Täufern der Vorwurf erhoben wird, dass »sie mit ihrer Lehre die Ob­rigkeit und ihr Amt sowie die politische Ordnungsmacht schwächten« (547), dann klingt vor dem Hintergrund des 16. Jh.s die nach wie vor aktuelle Problematik der Integration religiöser Minderheiten an. Ebenso zeigt sich am Beispiel der Eidesleistung (568–571), dass es durchaus möglich war, auf religiöse Vorbehalte politisch Rücksicht zu nehmen.
Zudem werden durchaus Übereinstimmungen beider Seiten erkennbar, etwa im Blick auf die Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes (202), aber auch hinsichtlich der Tätigkeit der Prediger (435) oder der Gemeindezucht (407). Trotzdem zeigt der Gesprächsverlauf, dass weniger die Suche nach Gemeinsamkeiten als die Betonung der Unterschiede, besonders seitens der reformierten Prediger, im Vordergrund stand (vgl. 660). Insgesamt jedoch scheinen die Vertreter der flämischen Mennoniten den reformierten Predigern argumentativ durchaus gewachsen gewesen zu sein. Dieser Eindruck wird durch die Feststellung unterstrichen, dass für die Druckfassung des Gesprächsprotokolls Veränderungen zugunsten der reformierten Prediger vorgenommen wurden (641 f.). Zu diesem Ergebnis kommt der Vf. jedenfalls am Ende seiner Untersuchungen. Durch diese bewussten Akzentverschiebungen in der veröffentlichten Fassung des Protokolls wurden nicht nur, so der Vf., die Einigungsbemühungen und Gemeindeentwicklung der friesischen Mennoniten untergraben, sondern wurde auch die Sichtweise der Nachwelt ganz massiv beeinflusst.
Diese differenzierte Sicht auf die Kontroverstheologie im Re-formationsjahrhundert verdeutlicht, dass lutherische und reformierte Theologie nicht nur in der Kontroverse miteinander und im Gegenüber zur altgläubigen Lehre entstanden, sondern auch in Auseinandersetzung mit den Täufern. Die historischen Täufer, hier namentlich die Mennoniten, sind daher als eigenständige Ausprägung reformatorischer Theologie stärker zu berücksichtigen. Die Untersuchung über das Emder Religionsgespräch ist zudem ein Lehrstück über die Macht publizistischer Deutungshoheit über historische Begebenheiten. Die Beschäftigung mit historischen Debatten über die zentralen Inhalte christlicher Lehre sowie um die angemessenen kirchlichen Strukturen schärft darüber hinaus den Blick für deren hermeneutisch-theologische Grundlagen und tritt einer fahrlässigen Geschichtsvergessenheit in aktuellen Diskussionen entgegen.