Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2000

Spalte:

308–310

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Seegets, Petra

Titel/Untertitel:

Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1998. X, 338 S. m. Abb. gr.8 = Spätmittelalter und Reformation, NR, 10. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146862-7.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Die im Wintersemester 1994/95 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommene Untersuchung der dortigen Assis-tentin Petra Seegets stellt einen bisher in der Forschung kaum bekannten, geschweige denn angemessen gewürdigten Nürnberger Franziskaner vor. Die Vfn. erweist sich in ihrer Untersuchung als aufmerksame und umsichtige Schülerin ihres Doktorvaters und Lehrers Berndt Hamm, indem sie zeigt, inwiefern das von diesem geprägte Stichwort "Frömmigkeitstheologie" auf das Denken eines spätmittelalterlichen Franziskaners zutrifft. Die Adressaten von Fridolins Schriften waren einerseits die Nürnberger Klarissen, die er seelsorgerlich betreute, andererseits die Angehörigen der dortigen Oberschicht, die nach Wegen und Möglichkeiten suchten, eine mit den Erfordernissen ihres weltlichen Berufes vereinbare und zugleich spezifisch christliche Lebensweise zu verwirklichen.

Fridolin wurde spätestens am Beginn der dreißiger Jahre des 15. Jh.s, wahrscheinlich in Winnenden, nordöstlich von Waiblingen gelegen, geboren. Sicher belegt ist er erstmals 1460 als Prediger der angesehenen oberen Pfarre in Bamberg, dann 1477 als Lektor im Mainzer Franziskanerkloster. Er wurde mehrfach mit besonderen Ämtern auf der Provinzialebene seines Ordens betraut, unternahm vor 1479 eine Reise nach Rom und war spätestens seit 1479 als Professenmeister und Lektor in Nürnberg sowie von 1481 bis zu seinem Tod am 18. August 1498 als Prediger im dortigen Klarissenkloster tätig, unterbrochen nur durch einen zweieinhalbjährigen Aufenthalt als Prediger im Basler Klarissenkloster. Berühmt ist Fridolin vor allem wegen des dickleibigen Schatzbehalters, der mit 96 ganzseitigen Holzschnitten geziert ist und zu den aufwendigsten Wiegendruckprojekten überhaupt gehört.

S. untersucht die erhaltenen Schriften Fridolins, die sämtlich in der Nürnberger Zeit entstanden: Es handelt sich um auf Predigten zurückgehende Meditationen (57-89) zu den Hymnen und Psalmen der kleinen Horen, die als privater Lesestoff und als Refektoriumslektüre für die Klarissen gedacht waren. Diese sogenannten Predigten wurden noch im Jahre 1514 in der Nürnberger Offizin des Friedrich Peypus unter dem Tiel Die walfart der pilgerin auff steigent in die heilige stat des hymmelischen Hierusalem gedruckt.

In zwei weiteren Schriften für sein weibliches Klosterpublikum, dem Geistlichen Mai und dem wohl kurz zuvor entstandenen Geistlichen Herbst (91-121), die wahrscheinlich in die neunziger Jahre zu datieren sind, leitet Fridolin die Nonnen an, sich in das Leiden Christi meditativ zu versenken. So sollten sie beispielsweise während der herbstlichen Fastenzeit, vom 14. September bis zum 18. Oktober, eine "geistliche Weinlese" halten, indem sie zwischen der Ernte der Trauben, deren Kelter und der Abfüllung des Mosts in Fässer einerseits, und der Passion Christi andererseits eine Beziehung herstellen: Die Leidensgeschichte sollte gleichsam wie eine Traube ausgedrückt werden, um sich ihren Gehalt, den Most, und dann endlich den Wein anzueignen. Während der Geistliche Herbst die inneren, seelischen Leiden Christi meditiert, stellt der Geistliche Mai seine äußeren, körperlichen in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Ebenfalls speziell für die Bedürfnisse von Nonnen konzipierte Fridolin seine nur knapp vier Blatt umfassende Lehre für angefochtene und kleinmütige Menschen (123-141), die Nonnen in Zweifeln an ihrer Erwählung mit schon von Gerson vorgetragenen Argumenten (vgl. Sven Grosse: Heilsgewißheit und Scrupolositas im späten Mittelalter, 1994) zu trösten versprach.

Das am Jahresende 1486 verfasste Buch von den Kaiserangesichten (143-167) begleitete eine Münzschenkung des Mönchs an den Nürnberger Rat. Hier erläutert Fridolin das Geschick einiger der auf den Münzen dargestellten Kaiser und interpretiert die Geschichte der römischen Herrscher als Mahnung für die gegenwärtigen und die künftigen Regenten Nürnbergs. Die Münzen wurden in einem Schaukasten in der Bibliothek ausgestellt, das Buch abgeschrieben und kostbar ausgestattet. Inhalt und Methode dieser Schrift lassen die Frage nach Fridolins Stellung zum Nürnberger Klosterhumanismus aufkommen. Im Unterschied zur älteren Forschung unterstreicht S. den Abstand Fridolins zu humanistischem Denken: Die Antike sei für ihn nicht normativ gewesen. Damit hat sie zwar im Ergebnis richtig geurteilt, aber unbefriedigend argumentiert: Ein Gegensatz zwischen Humanismus und Christentum ist in vielen Schriften vorreformatorischer Humanisten nicht aufzuweisen. Deshalb spricht gegen die Verortung dieses Franziskaners im zeitgenössischen Klosterhumanismus vor allem, dass er keine Kontakte zu Gesinnungsgenossen und deren literarischen Sodalitates unterhalten zu haben scheint.

Der sachliche Schwerpunkt von S.s Untersuchung liegt auf der Interpretation des Schatzbehalters (169-285), der Laien dazu anleitet, über die Verdienste zu meditieren, die Christus durch sein Leiden und Sterben angehäuft hat. Indem das Buch eine Anleitung dazu bietet, sich den von Christus angehäuften Schatz anzueignen, ist es selbst ein Schatzkästchen. Eine Besonderheit dieses Drucks besteht darin, dass der zweite Teil Bezug nimmt auf einen Bamberger Bilderzyklus, die Capistrantafel, die 15 Szenen aus der Passion Christi zeigt. Möglicherweise hat Fridolin während seines Wirkens in Bamberg dafür das Bildprogramm entworfen und dann auch die Idee der Zusammenstellung von Tafeln und erläuterndem Text für den Schatzbehalter entwickelt. Adressaten dieser Schrift sind wohlhabende Stadtbürger, auf deren Lebensweise der Autor vielfach Bezug nimmt. Den Stoff des zentralen zweiten Buches strukturiert Fridolin in 100 Punkten, die mit Hilfe der vielfältig gegliederten beiden Hände des Lesers memorierbar sein sollen.

Kirchengeschichtlich ordnet S. Fridolins Passionstheologie ein in die spätmittelalterliche Verehrung der Leiden Christi, die gerade in Nürnberg eines ihrer Zentren hatte. Sie unterscheide sich allerdings deshalb von der Masse dieser weitverbreiteten Schriften, weil sie das Leiden Christi nicht entsprechend der chronologischen Abfolge der in den Evangelien geschilderten Ereignisse bedenke, sondern von der Sache her zu durchdringen trachte; so könne besser die spezifisch franziskanische, den göttlichen Willen betonende Weiterentwicklung der anselmischen Satisfaktionstheorie eingeprägt werden. Fridolins Leitidee sei, dass die Passion tatsächlich Genugtuung für alle menschlichen Sünden ist und von den Gläubigen deshalb in einem reflektierten und aktiven Gebetsakt Gott selbst vorgehalten werden kann.

Der Anhang dieser Dissertation bietet eine Übersicht über den Aufbau des Schatzbehalters (292-306) und dessen Holzschnitte (306-312) sowie eine Tabelle mit den wichtigsten Daten zu Leben und Werk des Franziskaners. Von den Abbildungen im Schatzbehalter werden einige im Textteil (3, 56, 90, 122, 142, 168, 286, 291) wiedergegeben (nach dem Exemplar der Stadtbibliothek Nürnberg: Inc. 385.2o). Ein umfassendes 19-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis, Personen-, Orts- und Sachregister runden die Untersuchung ab.

Es gelingt S., Details der Biographie Fridolins zu klären und bisher weitgehend unerforschte literarische Quellen zum Sprechen zu bringen. So entsteht gleichsam ein religiöser Mikrokosmos vor den Augen des Lesers, der den bekannten und vielfältig belegten engen Zusammenhang von Kloster und Stadt illustriert. Die Vfn. beschreibt die für die vorreformatorischen Jahrzehnte bekannte Intensivierung der religiösen Dimension des bürgerlichen Lebens, welche die Grenzen zwischen Angehörigen des Status religiosus und Laien tendenziell verschwinden ließ. Weil ihre ganze Energie in die akribische Aufarbeitung der Quellen geflossen ist, bleiben die der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie immanenten theologischen und religiösen Probleme weitgehend unerörtert. Die Leserinnen und Leser dieser Studie können nur selbständig weiterfragen, warum die Theologumena der lutherischen Reformation den Nürnberger Bürgern so rasch evident waren. S. beschreibt eine ungemein intensiv und offenbar auch höchst zufrieden in den traditionellen Strukturen von Kirche und Stadt gelebte bürgerliche Frömmigkeit. Ein Bewusstsein von der Notwendigkeit "normativer Zentrierung" - um noch einmal einen Ausdruck Hamms aufzugreifen - scheinen Fridolin und seine Leser jedenfalls nicht besessen zu haben.