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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

80–82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens, u. Konrad Schwarz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Nag-Hammadi-Schriften in der Literatur- und Theologiegeschichte des frühen Christentums. Hrsg. unter Mitarbeit v. C. Paul.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. IX, 316 S. = Studien und Texte zu Antike und Chris-tentum, 106. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155365-3.

Rezensent:

Herbert Schmid

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Lundhaug, Hugo, and Lance Jenott [Eds.]: The Nag Hammadi Codices and Late Antique Egypt. Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XII, 508 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 110. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-153973-2.


Die beiden Bände versammeln Aufsätze, welche den Fund von Nag Hammadi in relevante Kontexte einordnen. In dem 2017 von J. Schröter und K. Schwarz unter dem Titel Die Nag-Hammadi-Schriften in der Literatur- und Theologiegeschichte des frühen Christentums herausgegebenen Band geht es vornehmlich um die Texte, welche aus den koptischen Übersetzungen der Nag Hammadi Codices (NHC) zu erschließen sind. Zum Geleit erinnert C. Markschies (15–35) an »Of-fene Fragen«, zu denen er sich durch den Titel veranlasst sehe, da ja weder eine christliche Literatur- noch eine Theologiegeschichte zur Verfügung stehen. Die anschließenden Beiträge machen deutlich, wie fruchtbar die Überlegungen dennoch sind.
J. D. Turner (37–66) steckt wesentliche Eckpunkte des Traditionsraums ab, indem er zeigt, dass sethianische NHC-Texte die Kenntnis platonischer Dialoge aus erster Hand voraussetzen und sie neben jüdische und christliche Quellen als göttliche Offenbarung stellen. Die nun folgenden Aufsätze wurden im Hinblick auf eine Literaturgeschichte nach fünf literarischen Genres geordnet. Im ersten Abschnitt über »Apokalypsen« betrachtet G. Wurst (69–78) NHC V und VII, J. Lahe (79–96) die Apokalypse des Adam (NHC V). D. M. Burns (97–112) befasst sich mit der Apokalypse des Paulus (NHC V) und argumentiert gegen deren gelegentlich diskutierte valentinianische Ausrichtung, indem er das um Lehrer herum strukturierte valentinianische »church movement« gegen die pseudepigraphischen, »sethianischen« Apokalypsen stellt, die zur Lektüre für Einzelne gedacht waren. Deshalb kennen wir keine sethianischen Lehrer, wohl aber sethianische Bücher (111).
Im zweiten Abschnitt über mythologische Traktate untersucht N. Denzey Lewis (115–132) den Mythos-Begriff. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Forschung »Mythos« einst im Sinne von »Heilsgeschichte« für eine konkrete Gruppe (»Volksgeist«) verstanden habe, was auf die mythologischen Texte aus NHC nicht anwendbar ist. »Mythos« ist dort eine Form antiken Diskurses, die rationalisierend auf die Genesisexegese angewandt wird. U. U. Kaiser (133–140) geht der Verwendung eines Motivs aus dem griechischen Daphne-Mythos in der Hypostase der Archonten (NHC II) nach; K.-L. King (141–160) legt dar, dass die mythologischen Elemente im Apokryphon des Johannes (NHC II, III, IV, BG), die jüdischen Traditionen sowie der Bezug zu Platons Timaios, nicht auf den Einfluss spezifischer Gruppen verweisen müssen, sondern deutlich machen, wie frühe Chris-ten literarische Formen aufgreifen.
Im dritten Teil des Bandes zu liturgischen Texten, befasst sich H. Lundhaug (163–183) mit Gebeten in den NHC (siehe dazu unten) und A. Marjanen (185–195) mit dem Buch des großen und unsichtbaren Geistes (NHC III und IV). Zu der, in der Sethianismus-Forschung umstrittenen, Frage, ob sich die Existenz einer spezifisch sethianischen Taufe belegen lasse, verweist Marjanen darauf, dass zumindest dieser Text ein tatsächlich vollzogenes Ritual voraussetze (195).
»Evangelien« sind das Thema des vierten Teils. S. Gathercole (199–218) plädiert dafür, dass die Bezeichnung »Evangelium« in NHC nicht im Sinne einer Gattung zu verstehen sei, sondern als eine Aussage über den Inhalt der so betitelten Texte, der als »Heilsbotschaft« (212) ausgewiesen werden soll. P.-H. Poirier (219–232) betrachtet die Forschung zum Evangelium nach Thomas (NHC II) und K. Brix (233–247) untersucht im Evangelium der Wahrheit (NHC I, XII) das Bild vom »Essen« Jesu in NHC I p. 18, 24–29 als imaginierende Meditation über Sündenfall und Kreuzigung, gewissermaßen als ›Eucharistie ohne materielle Elemente‹ (247). Wie K. King distanziert sich J. Hartenstein (249–264) von der Vorstellung sozial abgrenzbarer Gruppen und deutet die Weisheit Jesu Christi (NHC II, BG) als Zeugnis eines Netzwerkes, »in dem theologische Vorstellungen und literarische Elemente immer neu zusammengesetzt werden können« (264).
Ein Abschnitt über »Theologische und Philosophische Traktate« beschließt den Band. In seinem Beitrag zeigt E. Thomassen (267–280), dass es »our so-called Gnostics« waren, die als Erste, noch vor Origenes, damit begonnen haben, christliche »treatises of universal salvation history« zu verfassen (270). Sie machen sich dabei die, in philosophischen Traktaten eingeführte, Form des Mythos zunutze, um ihre Theorie der Erlösung zu kommentieren, während im philosophischen Diskurs umgekehrt die Theorie den Mythos kommentiere (271). Erzählen (Mythos) und Argumentieren (Traktat) sind in gnos-tischen Texten miteinander verbunden. Nach und nach seien die einst diskursiven gnostischen Texte dann zu Meditationstexten ge­worden. Abschließend macht U.-K. Plisch (281–293) mit dem Seth-Gebet aus Pap. Berol. 17207 und dessen Zusammenhang mit dem »philosophisch orientierten Sethianismus« bekannt.
Auch der zweite, 2018 erschienene Band, The Nag Hammadi Codices and Late Antique Egypt, sucht Kontexte, verschiebt aber den Fokus weg von den Einzelschriften hin zu den Büchern. Die Herausgeber H. Lundhaug und L. Jenott fordern zu Eingang (1) den Perspektivwechsel ein. Da es sich bei den NHC um Artefakte aus dem Ägypten des späten 4. und 5. Jh.s handelt, die augenscheinlich für ein Publikum dieser Zeit gedacht waren, sollten sie in diesem Kontext betrachtet werden. Die Aufsätze sind in vier Abschnitte geordnet: Im ersten Teil (The Monastic Life) verweist J. F. Dechow (11–51) auf die Nähe der NHC zum origenistischen Mönchtum und zeigt, dass »gnostische« Themen auch Teil der breiteren christlichen Überlieferung sind. J. E. Goehring (53–80) bezeichnet die ägyptischen – auch pachomianischen – Klöster als kulturelle »Schmelztiegel« (76). Er erläutert, dass Texte ganz unterschiedlicher religionsgeschichtlicher Zusammenhänge in NHC VII deshalb verbunden wurden, da sie alle »a more spirit-based theology« (77) boten. M. H. Sellew (81–106) bringt das Thomasevangelium mit den Apophthegmata Patrum in Verbindung. B. Stefaniw (107–138) untersucht Sextus (NHC XII) und Silvanus (NHC VII) und zeigt, dass die Mönche in der Lektüre der NHC wohl eine Bestätigung ihrer Suche nach einem spirituellen oder intellektuellen Zugang zu Gott fanden.
Auch im zweiten Teil (Egyptian Christianity and its Literature) wird deutlich, dass die koptischen Leser nicht an den fremden Lehren (über den Demiurg u. Ä.), sondern anderen Motiven interessiert waren. In diesem Sinne macht D. M. Burns (141–162) Beobachtungen zur Figur Eleleth in magischen und christlichen Zeugnissen des koptischen Ägypten, J. C. Dias Caves (163–182) liest die Apokalypse des Paulus in NHC V im Kontext koptischer Hagiographie und U. Tervahauta (183–204) verbindet biblische Anspielungen in Authentikos Logos (NHC VI) mit monastischer Spiritualität.
Im dritten Teil (Religious Diversity in Egypt) wird der Blick auf weitere religiöse Strömungen aus dem Umfeld der NHC gerichtet, zunächst von C. H. Bull (207–260) auf die Hermetica. Anhand des Eugnostos (NHC III, V) behandelt R. Falkenberg (261–286) die Frage eines manichäischen Einflusses auf NHC-Texte. Er erinnert an »rewriting strategies of later origin«, inspiriert durch Origenismus, Arianismus, das frühe Mönchtum oder eben den Manichäismus, wobei nicht durchgängig eine sekundäre Bearbeitung vorausgesetzt werden muss. So rechnet er im Falle von Eugnostos mit proto-manichäischen Elementen und wechselseitigem Einfluss (266 f.). P. Tutty (287–326) widmet sich der interessanten Frage, ob der NHC-Fund einer christlichen Version des altägyptischen Brauchs zu danken sein könnte, der Mumie ein Totenbuch mitzugeben, kommt aber zu dem Ergebnis, dass hier allenfalls zu Lebzeiten gelesene Bücher Grabbeigaben wurden (319).
Im vierten Teil (Scribes and Manuscripts) geht H. Lundhaug (329–386) für die NHC von der Herkunft aus einem pachomianischen Kloster aus wie es auch für die sogenannten Dishna-Papyri anzunehmen ist (375 f.). Die Dishna-Papyri wurden wohl vergraben, um sie vor Plünderung oder Zerstörung in Sicherheit zu bringen, während man die vor allem nicht-kanonischen Texte aus NHC eher vor kirchlicher Konfiskation im Rahmen einer Säuberungsaktion bewahren wollte. Lundhaug denkt an den, auch in anderen Beiträgen des Bandes (z. B. Tutty, 300) diskutierten »Osterfestbrief des Athanasius« aus dem Jahr 367 oder an den Brief des Dioskuros an Shenoute aus den 440er Jahren (354 f.). L. Painchaud (387–426) untersucht Schrifttyp, Kartonagen und Bindung der NHC, M. A. Williams und D. Coblentz (427–456) erfassen statistisch die Satz- und Betonungszeichen in NHC II und XIII, um jeweils so Rückschlüsse auf Produzenten und Nutzer zu gewinnen. C. Askeland (457–489) kommt schließlich im Blick auf paläographische Methoden zu dem Ergebnis, dass es jenseits von archäologischem Befund oder Kolophonen kaum eine Möglichkeit gibt, Manuskripte in ein bestimmtes Jahrhundert zu datieren. Viele ins 4. oder 5. Jh. datierte Manuskripte könnten erst im frühen 8. Jh. oder später entstanden sein (484).
Ein Missverständnis wäre es wohl, die in den beiden Bänden repräsentierten Ansätze als Alternativen gegeneinander zu stellen. Selbst wenn die Kategorie »Gnosticism«, wie H. Lundhaug (365) meint, »useless« wäre, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass es auch sinnlos ist, nach den als »gnostisch« bezeichneten Ursprungs-texten des 2. und 3. Jh.s zu fragen. Die Bezüge der NHC zum spätantiken Ägypten sind erhellend, und es ist gut denkbar, dass die älteren »gnostischen« Texte, die den NHC zugrunde liegen, durch monastische Literatur aus dem Umfeld der Produktion der Codices erweitert worden sind. Ebenso sinnvoll und notwendig, wie die NHC im 4. oder 5. Jh. aufzusuchen, ist es, sie versuchsweise in eine Religionsgeschichte des 2. und 3. Jh.s einzufügen. In seinem Beitrag im Band von Schröter/Schwarz (siehe oben) vergleicht H. Lundhaug u. a. Gebete aus NHC, welche valentinianischer Tradition zugeschrieben werden, darunter Gebete im Evangelium nach Philippus (NHC II), mit Texten des Serapion von Thmuis und Johannes Cassian. Die im Zusammenhang der Eucharistie erwähnte Vereinigung der Kommunikanten mit den Engeln (NHC II p. 58, 10–14; #26b) deutet Lundhaug als Hinweis auf die orthodoxe Vorstellung, dass die Engel bei der Eucharis-tiefeier anwesend seien. Doch schließt diese Deutung nicht aus, dass das Motiv im Philippusevangelium zunächst die valentinianische Vereinigung mit dem Engel als Ziel der menschlichen Existenz (haer. I 7,1.5; II 29,1; III 15,2) meinte. Es ist gut nachzuvollziehen, dass die Texte nicht durchgehend in der Absicht gelesen wurden, in der man sie einst geschrieben hatte. Im Lauf der Zeit wandelte sich deren Publikum, und dieser Wandel wird in der neuen Rahmung der Texte in den NHC deutlich (vgl. Thomassen, in Schröter/Schwarz, 276).
Die Perspektiven, die durch die beiden Aufsatzsammlungen repräsentiert sind – der Blick auf die Texte und der Blick auf die Bücher – ergänzen einander und erweitern in je eigener Weise das Blickfeld.