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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

74–75

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lincicum, David, Sheridan, Ruth, and Charles M. Stang [Eds.]

Titel/Untertitel:

Law and Lawlessness in Early Judaism and Early Christianity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. X, 232 S. = Wissenschaft-liche Untersuchungen zum Neuen Testament, 420. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-156708-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Der Sammelband enthält elf Beiträge eines im August 2015 in Oxford veranstalteten »Lautenschlaeger Colloquiums«. Behandelt werden hierbei sowohl unterschiedliche Bedeutungen und Bewertungen der Gesetzesobservanz im antiken Judentum und im frühen Christentum als auch zeitgenössische antinomistische Diskurse und Tendenzen. In ihrer Einleitung (1–8) betonen die Herausgeber die wesentliche Bedeutung der Interdependenz jüdischer und christlicher Traditionen und Bewegungen während der formative Phase beider Religionsgemeinschaften bis zum 3. Jh. n. Chr.: »The essays in this book attempt to relate the themes of ›law‹ and ›lawlessness‹ dialectically in the literatures of early Judaism and Christianity.« (3)
Im ersten Beitrag des Bandes (9–28) skizziert Lutz Doering die Wahrnehmung von Toraobservanz und (tatsächlicher oder be­haupteter) Gesetzlosigkeit in den Schriftrollen vom Toten Meer. Dabei zeigt er auf, dass die Trägerkreise dieser Texte den (insbesondere heilsgeschichtlich kontextualisierten) Vorwurf des Antinomismus zur Aufrechterhaltung eines religiös-kultischen Assimilationsdrucks zwecks Konsolidierung der Gemeinschaft nach innen und zu deren polemischer Abgrenzung nach außen instrumentalisierten: »The charge of lawlessness ultimately helped shape the identity of the communities envisioned in the Scrolls« (28). Grant Macaskill (29–47) kommt hinsichtlich der Auffassung vom Gesetz in der Henochliteratur zu den Ergebnissen, dass 1. im äthiopischen und im slavischen Henochbuch keine innovativ erweiternden ha­lachischen Fortschreibungen religionsgesetzlicher Bedingungen begegnen, dass 2. auch die differenten Interpretationen legalistischer Traditionen in den beiden »apokalyptischen« Textcorpora sich zumeist auf ein und dieselbe normative Basis beziehen, dass 3. die Betonung der göttlichen Gnade häufig die Observanzforderungen einhege, und dass 4. (sic!) die »judenchristlichen« Trägerkreise der Texte auch weiterhin an der unbedingten Monotheismusforderung, an den Moralvorstellungen und an dem strikten jüdischen Idololatrieverbot festhielten, ohne dabei bundestheologische Be­gründungsstrukturen der gegenwärtigen Lebensgestaltung aufrechtzuerhalten (47).
Joshua D. Garroway (49–66) zieht Parallelen zwischen dem Völkerapostel Paulus und dem Reformrabbiner Samuel Holdheim (1806–1860). Dieser wie jener hätten ihre grundsätzliche Kritik an der jüdischen Gesetzesobservanz unbeschadet ihres grundsätzlichen Festhaltens an der eigenen traditionsgebundenen jüdischen Identität formuliert: »Fulfilling the Law thus remains a desideratum for Paul, even if observing its ordinances does not.« (53) Während Paula Fredriksen (67–87) das paulinische Gesetzesverständnis im Spiegel seiner Deutungen durch Origenes und Augustinus in den Blick nimmt und dabei feststellt, dass beide Kirchenschriftsteller an der Vorstellung eines »lawful Paul« festhielten (87), be­wertet David M. Moffit (89–103) die Beurteilung des nach dem Gesetz vollzogen Opferkults durch den Verfasser des Hebräerbriefs nicht als dessen Abwertung, sondern als Relativierung seiner Suffizienz angesichts des endgültigen Versöhnungsgeschehens in Christus.
David Lincicum (105–121) wendet sich dem Barnabasbrief zu, dessen unbekannter Verfasser der jüdischen Tradition – insbesondere im Hinblick auf überkommene Vorstellungen von Reinheit und Kult – als »misreading« der Tora (120) keine bindende Kraft mehr zugesteht und diese als Heilsgröße gleichsam annulliert. Einen diachronen Überblick über Formen und Funktionen früher Kirchenordnungen bietet Paul F. Bradshaw (123–133). Der ambivalenten Beurteilung der Geltung des Gesetzes für die nichtjüdische Welt in der rabbinischen Traditionsliteratur widmet sich Steven D. Fraade (135–155). Eine wesentliche Aussage der von ihm untersuchten midraschischen Texte sei die Bedeutung der (hebräischen) Tora als identitätstiftendes Differenzkriterium: »Once the Torah, written and oral, were to become universally available and accessible, Israel’s distinctive identity and covenantal status would evaporate« (146). Michal Bar-Asher Siegal (157–171) vergleicht die aktualisierende Applikation der Gesetzestradition in einer Reihe amoräischer Texte mit frühen christlichen Ordensregeln und stößt dabei auf manche Analogien, die ihrerseits eine »joint religious atmosphere« beider Auslegungsgemeinschaften nahelegen (171). Die beiden rezeptions- bzw. forschungsgeschichtlich ausgerichteten Aufsätze von Christopher Rowland (173–192) und Michael Peppard (193–214) schließen den lehrreichen Tagungsband ab. Kurzvorstellungen aller Autoren (215) folgen gründliche Register der Quellen (217–225), modernen Autoren (226–229) und Sachen (230–232).
Vor allem die Beiträge zum komplexen Verhältnis zwischen Toraobservanz und Gesetzeskritik sowohl in unterschiedlichen Strata des antiken Judentums als auch innerhalb der aufstrebenden Christentums enthalten wichtige Impulse für die andauernde Diskussion um den Verlauf des verwickelten Ablösungs- und Formierungsprozesses beider Religionen.