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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

67–69

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Holtz, Gudrun

Titel/Untertitel:

Die Nichtigkeit des Menschen und die Übermacht Gottes. Studien zur Gottes- und Selbsterkenntnis bei Paulus, Philo und in der Stoa.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIV, 471 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 377. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-155008-9.

Rezensent:

Maren Niehoff

Wie der Untertitel dieser Monographie von Gudrun Holtz anzeigt, geht es hier um eine vergleichende Studie zwischen Paulus, Philo und stoischen Philosophen. Dieser Vergleich basiert auf umfassenden Kenntnissen aller drei Bereiche sowie des frühen hebräisch-sprechenden Judentums und der Einsicht, dass Paulus und Philo sinnvoll als unabhängige Autoren vor dem Hintergrund der kaiserzeitlichen Stoa zu interpretieren sind. Dieser Ansatz ist sehr vielversprechend, da er von Fragen nach direkter Anhängigkeit des Paulus von Philo absieht und sie beide in den Kontext zeitgenössischer Diskurse im Römischen Reich stellt. Sowohl Philo als auch Paulus werden als aktive Teilnehmer breiterer Diskurse verstanden. Sie verfügen über philosophische Kenntnisse und benutzen diese, um ihre Theologie zu entwickeln. Philo, der weitaus philosophischere der beiden Autoren, wird dabei »als Interpretationshilfe« (372) genutzt, um den intellektuellen Hintergrund von Paulus zu beleuchten. Auch dieses Vorgehen scheint mir überzeugend und willkommen. Methodische Zweifel stellen sich allerdings ein, wenn grundsätzlich von einer Ablehnung der Stoa ausgegangen wird und dieser Schule sowohl ein persönlicher Gott als auch gesellschaftliche Verantwortung abgesprochen wird. Dieses Interpretationsmuster wirft weitreichende Fragen zum Verständnis christlicher und jüdischer Theologie auf, die im Folgenden diskutiert werden sollen.
Doch zunächst zum Inhalt des Buches. Im Vordergrund der Studie steht der vielzitierte Satz aus 1Kor 4,7: »Was aber hast du, was du nicht empfangen hast? Wenn du es aber doch empfangen hast, was rühmst du dich (dann) als einer, der nicht empfangen hat?«. H. identifiziert diesen Satz als den »theologisch-anthropologischen Kern« des paulinischen Denkens und eruiert ihn vor dem Hintergrund von Philos Philosophie, der zwar den griechischen Begriff καυχᾶσθαι kaum benutzt, aber die Selbstliebe (φιλαυτία) kritisiert und ihr die Hingabe zu Gott gegenüberstellt. Die Monographie ist in zwei Teile gegliedert: Der erste, weitaus längere Teil widmet sich der Identifizierung der theologisch zentrierten Anthropologie bei Paulus und Philo im Spiegel griechisch-römischer und biblisch-jüdischer Traditionsbildung, während der zweite diese Befunde in den größeren Zusammenhang des Verständnisses von Gott und Selbst in kaiserzeitlichen Diskursen stellt, die seit Foucaults Arbeiten stark im Gespräch sind.
Im zweiten Teil nimmt Philo eine besonders zentrale Rolle ein, weil er im Unterschied zu Paulus direkt von der Sorge um das Selbst spricht und damit den Ausgangspunkt für Vergleiche zur Stoa bietet. H. zeigt überzeugend, dass Philo mit der stoischen Terminologie vertraut ist, sie aber umkippt, indem er den Rückzug in das Selbst mit dem Ziel der Gemütsruhe durch den Rückzug zu Gott und dessen Gnade ersetzt. Eine Schlüsselpassage ist der Allegorische Kommentar 3,11–27, wo stoische Begriffe wie Logismos, Freiheit, Vorstellung, Beurteilung gedrängt auftauchen. Gleichzeitig formuliert Philo einen neuen Zugang zu den stoischen Fragen, indem er von der Rechtfertigung des Individuums vor Gott und von göttlicher Hilfe für die Überwindung der Leidenschaften redet (297–332). Zusammenfassend stellt H. zu Recht fest, dass Philo »zentrale Vorstellungen der Stoa verarbeitet, die jedoch durch die Verbindung mit dem platonisch und biblisch geprägten Gottesdenken eine erhebliche Umdeutung erfahren. Was für die Stoiker die Sache selbst ist, nämlich der Rückzug ins Ich, wird bei Philo zu einer, obgleich unabdingbaren, Vorbereitung auf die für ihn alles entscheidende Selbstmitteilung Gottes.« (311) Dieses Kapitel ist ausgezeichnet und trägt mit seiner detaillierten Textanalyse zur Philoforschung bei.
Im ersten Teil der Monographie wird Philo im Zusammenhang der Gottes- und Selbsterkenntnis eingeführt, und zwar wieder unter dem Motto der Umwertung stoischer Ideen (88–189). In diesem Kapitel stößt die hier gewählte hermeneutische Strategie an ihre Grenzen, weil sie die große Vielfalt philonischer Positionen nicht genügend berücksichtigt. H. widmet z. B. der philonischen Interpretation von Abrahams Gotteserkenntnis eine ausführliche Diskussion und wertet sie als anti-stoisch, da sie die Vergötterung des Kosmos kritisiert. Jedoch sind es in der Kaiserzeit gerade die Stoiker, die die Gotteserkenntnis auf das Betrachten des Universums zurückführen und dabei von einem individuellen Schöpfergott ausgehen, der alle Einzelkörper providentiell leitet. In Ciceros Schrift Über die Natur der Götter vertritt der stoische Repräsentant genau diese Position gegenüber dem Platoniker (N.D. 2.64, 3.28). Philo scheint durch die Stoa angeregt zu sein, einen speziellen Traktat über die Schöpfung zu schreiben, die er im Allegorischen Kommentar noch kaum berücksichtigte. H. ist sich zwar bewusst, dass Philo die »natürliche Gotteserkenntnis« nicht völlig zu Gunsten der Offenbarung ablehnt, kommt aber doch zu der irreführenden Schlussfolgerung: »deshalb gelangt die natürliche Gotteserkenntnis, so sehr sie auch glückliche Treffer zu erzielen vermag, doch nicht zur Wahrheit« (112).
Das Kapitel »Zum Gottesverständnis in der Stoa« ist dann sehr einseitig. Hier liegt es H. daran, Forscher zu widerlegen, die auf die theologische Dimension der kaiserzeitlichen Stoa aufmerksam gemacht haben, besonders H. Cancik-Lindemaier und H. Cancik. Diese Forschungsrichtung wird abgelehnt mit dem Argument, personal-theistische Aussagen in der Stoa müssten in ihrem jeweiligen pantheistischen »Horizont« gewürdigt und damit als Ausdruck eines Systems verstanden werden, dass keinen persönlichen Gott und keine göttliche Gnade kennt. H. wertet alle persönlichen Seiten der stoischen Theologie lediglich als »Momente«, die das Gesamturteil nicht in Frage stellen können (z. B. 355.367). Kleanthes Hymnus an Zeus wird zwar wahrgenommen, aber dem hermeneutischen Schema untergeordnet und nicht als ein authentischer Ausdruck eines persönlichen Gottesverhältnisses gewertet. Wenn auch Epiktet ein persönliches Gottesverhältnis abgesprochen wird, weil sein Gott dem Weisen keine »gnadenhafte Hilfe zugesteht« (358.362), wird man den Eindruck nicht los, hier seien paulinische Kriterien auf die Stoa angewendet worden.
Bei der Diskussion von Paulus stellen sich weitere grundsätzliche Fragen. H. argumentiert, dass sich die kurzen philosophischen Anklänge bei Paulus durch Philos ausführliche Diskussionen er­gänzen lassen. Auf diese Weise wird auch ihm eine antistoische Haltung zugesprochen. H. geht es dabei um theologische »Kerngedanken«, wie sie in 1Kor 4,7 zum Ausdruck kommen. Durch den Vergleich mit Philo werden Sätze, die eher beiläufig klingen könnten, zu übergreifenden philosophischen Grundsätzen erhärtet, die ohne historische Erklärung oder rhetorische Analyse im Raum stehen und auch heute noch relevant sind. Paulus’ Konflikt mit anderen Aposteln erscheint vor diesem Hintergrund als eine »Aktualisierung theologischer Grundfragen« (53), in denen die Gegner sich selbst rühmen statt Gott als Maßstab anzunehmen. Paulus’ Rühmen seiner eigenen Person kommt zwar kurz in den Blick, wird dann aber legitimiert durch einen Hinweis darauf, dass sein »eigenes Rühmen regelkonform sei« (60). Beim Lesen solcher Urteile wird man den Eindruck nicht los, dass es hier letztendlich um die theologische Legitimierung des Paulus geht. Es ist auffallend, dass 1Kor 4,7 nicht im Rahmen der überaus komplexen Textgeschichte der Korrespondenz mit den Korinthern interpretiert wird, sondern isoliert als Kerngedanke postuliert wird. Margaret Mitchell, die die Forschung auf diesem Gebiet bahnbrechend gefördert hat, wird nur am Rande mit einer Arbeit zu den Kirchenvätern erwähnt (M. M. Mitchell, Paul, the Corinthians and the Birth of Christian Hermeneutics, Cambridge 2010). Ihre Einsichten in die rhetorischen Strategien der verschiedenen Teile der Korrespondenz wären der Untersuchung von 1Kor 4,7 sehr förderlich gewesen.
H.s Buch wirft somit grundlegende Fragen zur komparatistischen Forschung auf. Die hier angestellten Vergleiche beruhen auf guten Kenntnissen der Texte in ihren Originalsprachen, und doch hat man den Eindruck, dass verglichen wird, um Gegensätze herauszustellen und »pagane« von jüdisch-christlichen Traditionen zu trennen. An vielen Stellen wird die Ambivalenz H.s gegenüber der Stoa und ihrem möglichen Einfluss auf jüdisch-christliche Autoren handgreiflich. Sie schreibt z. B.: »damit steht einer Deutung der Aussage von Phil 4,11 im Horizont stoischen Denkens nichts im Weg«, betont dann aber sofort, dass Paulus’ folgender Hinweis auf Christus ihn grundsätzlich von stoischen Überzeugungen abgrenzt (378). Wie parallel müssen zwei Texte sein, um als ähnlich oder geistesverwandt zu gelten? Natürlich will man nicht der Parallelomanie zum Opfer fallen, anderseits muss aber auch klar sein, dass kein Autor mit einem anderen identisch ist, sondern immer seine jeweilige Stimme zu Worte kommen lassen will. Wie groß muss der Unterschied zwischen zwei Autoren sein, um sie verschiedenen Schulen zuzuordnen? Wäre es nicht sinnvoller, Ab­stand zu nehmen von dem Begriff philosophischer Kerngedanken und stattdessen rhetorische Strategien zu untersuchen? Die letzteren ermöglichen Verbindungen zu anderen intellektuellen Strömungen aufzuzeigen, ohne sich für eine bestimmte Wahrheit zu verbürgen oder perfekte Identität mit dem Original zu erwarten.