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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

63–65

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Engberg-Pedersen, Troels

Titel/Untertitel:

John and Philosophy. A New Reading of the Fourth Gospel.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2017. 432 S. Geb. £ 79,00. ISBN 978-0-19-879250-5.

Rezensent:

Rainer Hirsch-Luipold

Troels Engberg-Pedersen ist bekannt als Grenzgänger zwischen biblischer Exegese und antiker Philosophie und insbesondere für seinen Versuch einer philosophischen, näherhin stoischen, Deutung des Paulus. Nun hat er seine ebenfalls stoische Interpretation des Johannesevangeliums vorgelegt: ein narrativ-philosophical reading.
Zwei entscheidende Voraussetzungen tragen die Lektüre des Vf.s: 1. Das Johannesevangelium lässt sich am besten als Beitrag zu einem philosophischen Diskurs verstehen und 2. muss die bisher vorherrschende (dem Vf. zufolge verfehlte) platonische Deutung durch eine stoische ersetzt werden, um das Evangelium richtig zu verstehen. Im Zusammenhang der in der jüngeren Forschung verschiedentlich gestellten Frage nach dem Verhältnis des Neuen Testaments und insbesondere des vierten Evangeliums zur Philosophie der Zeit (Attridge [2006], van Kooten/Klostergaard-Petersen [2017], Hirsch-Luipold [2006; 2017], Despotis [2019 The Religious-Philosophical Hybridity in John 6 and its Reception in the Com mentaries of Origen and John Chrysostom, in J. Kok et al., Eds., Drawing and Transcending Boundaries in the New Testament and Early Christianity, BVB 38, Berlin: 2019, 47–67], u. a.) setzt der Vf. mit seiner Deutung auf diese Weise einen bewussten Gegenakzent, insofern die bisherigen Entwürfe überwiegend von einem (mittel)platonischen Hintergrund des Evangeliums ausgehen.
Herausgekommen ist eine luzide, von philosophischen Fra-gen geleitete Gesamtkommentierung des Evangeliums. Denn die Grundthese ist, das Evangelium gebe mit seiner Erzählung eine Antwort auf eine philosophische Frage (bzw. eine Reihe philosophischer Fragen), die es im Blick zu haben gelte, wenn man das Evangelium richtig verstehen will. Diese grundlegende Frage er­blickt der Vf. hinter der Inkarnationsaussage in Joh 1,14: Wie ist es möglich, dass der ewige göttliche Logos Fleisch wird, also in den Bereich des Werdens eintritt? Die Antwort des Vf.s lautet: indem Jesus bei der Taufe zusammen mit dem (göttlichen) pneuma den logos empfängt, der am Anfang bei Gott war. Hinter dem Evangelium stehe als Theorie des Evangelisten »the intimate relationship between the logos and the pneuma, which Jesus received at his (divine) baptism and which stayed with him all through and guid-ed him in everything he did and said« (32). Aus dieser Antwort leitet sich eine weitere Grundthese ab: Im Johannesevangelium be­stimmt das pneuma als Grundakteur das Geschehen. Die Verwendung dieses für die Stoiker zentralen Begriffs legitimiert und trägt hier wie auch bei der Paulusdeutung des Vf.s die stoische Interpretation:
»It all hangs together in terms of the activity of the (logos-)pneuma when this is understood cosmologically as a (cognitive and) material entity along Stoic lines that literally and concretely acts on all involved: on Jesus and on those who follow him. Only a reading of the logos-pneuma along such lines will do justice to all the references to logos and pneuma, respectively.« (35) »… the overall point is that the pneuma is here considered the agent in a wholly literal sense of everything that has happened to Jesus, happens to his addressees, and will happen to both parties. John was truly a Geisttheologe.« (98)
Dieses logos-pneuma, dem in zwei Kapiteln (36–112) fast ein Viertel des Buches gewidmet ist, wird dann im Laufe der Überlegungen (wohl auch notwendigerweise) bei vielen Einzelentscheidungen als zugrundeliegender Akteur vorausgesetzt – auch dort, wo die entsprechende Begrifflichkeit nicht erscheint. Der Vf. erklärt: »we know what that is: the pneuma« (335). Bei manchem Leser oder mancher Leserin, die dieser Grundentscheidung nicht zu folgen vermögen, mag sich deshalb auf dem Weg eine gewisse Frustration einstellen und die zunehmende Frage, inwieweit dieses Verfahren dem methodischen Anspruch gerecht wird, wieder (!) den Text selbst wahrzunehmen und sprechen zu lassen (»A return to the text« ist das erste, methodische Kapitel überschrieben). Gleichwohl ist es eine besondere Stärke des Vf.s auch in diesem Buch, seine Voraussetzungen vollkommen offenzulegen und auf diese Weise die Diskussion voranzubringen.
Der Aufbau des Buches folgt der klaren Disposition eines philosophischen Denkers: In einem ausführlichen Einleitungskapitel (I) wird nach einem souveränen Überblick über einige Stationen der Forschungsgeschichte zunächst die Methode der »narrativ-philosophischen« Interpretation etabliert. Danach folgt ein Überblick über die Ergebnisse einer Lektüre, die von der Einheit von Logos und pneuma im vierten Evangelium ausgeht (II–III): Jesus ist nicht der Logos, sondern er empfängt den logos, der am Anfang bei Gott war, zusammen mit dem (göttlichen) pneuma bei der Taufe. Da­durch kommt es zu einer double identity: einfacher Mensch und Sohn Gottes. Für seine Analyse zieht der Vf. im dritten Kapitel die stoische Sprachtheorie heran, um das enge Verhältnis von logos und pneuma im Johannesevangelium zu verstehen. Es schließt sich ein Durchgang durch das gesamte Evangelium an (IV–X), bevor der Vf. zwei Einzelthemen vertieft: zunächst das Verhältnis des Johannesevangeliums zu Paulus und den Synoptikern sowie die Rolle der Juden im vierten Evangelium (XI) und zweitens eine Ausein-andersetzung mit Entwürfen, die von einer bildhaft-verrätselten Grundstruktur des Evangeliums ausgehen (Zimmermann, Attridge, Hirsch-Luipold).
Im Durchgang durch den Text entwickelt der Vf. eine Reihe von originellen Einzeldeutungen, die hoffentlich in der Forschung Be­achtung finden werden, wenngleich die Monographie nicht formal als Kommentar gekennzeichnet ist. Aus den vielen interessanten Interpretationen, die der Vf. bietet, sei eine exemplarisch herausgegriffen, weil sie für den Ansatz des Vf.s fundamental ist, mir aber nicht unproblematisch erscheint: die Rolle der »Taufszene«, die als eine Taufe durch Gott interpretiert wird (68). In einer adoptianischen Lesart identifiziert der Vf. diese Taufszene mit der Inkarnationsaussage in Joh 1,14, um sie als Antwort auf die Frage nach der Fleischwerdung des Logos zu verstehen. »What John does in 1,29–34, then, is to spell out in terms of the pneuma precisely what happened when the logos became flesh.« Deutet man die Taufe in dieser Weise als Verwandlung des Menschen Jesus durch den Geist, der nun vom Geist durchdrungen ist, wäre dann aber in 1,14 statt »das Wort wurde Fleisch« nicht die umgekehrte Formulierung klarer: »das Fleisch wurde Geist«? So jedenfalls stellt sich der Vf. die durch einen stoischen Denkrahmen inspirierte Verwandlung des Menschen nach Paulus vor (vgl. Engberg-Pedersen, Cosmology and the Self in the Apostle Paul, 2010). Beim »return to the text« stellt sich mir zudem die grundsätzlichere Frage im Blick auf die vorgetragene Deutung: Spielt es eine Rolle angesichts der weitreichenden Deutung des Vf.s, dass bei Johannes die Taufe in 1,32–34 gerade nicht erzählt, sondern durch eine Vision des Täufers ersetzt wird? Dies könnte, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, auf die Frage deuten, wie Gott (in Christus) in der Welt wahrnehmbar und erkennbar ist, und mithin auf Joh 1,18 (»Keiner hat Gott je gesehen«) als erkenntnistheoretisches Grundproblem des Evangeliums.
Fazit: Bedenkenswert scheint mir neben vielen Einzelaspekten das die Darstellung durchziehende leidenschaftliche Plädoyer für eine pneumatologische Gesamtdeutung des Evangeliums, wenngleich mir wie gesagt fraglich ist, ob der Begriff »pneuma« die stoisierende Deutung tatsächlich zu tragen vermag. Nach dem Vf. fällt aber mit der Antwort auf die Frage nach dem wahrscheinlichsten Referenzrahmen die Grundentscheidung im Blick auf die Interpretation des Evangeliums. Das bedeutet aber auch: von seinen methodischen Prämissen her würde sich die Interpretation fundamental verschieben, wenn die Grundfrage nicht wäre, wie der Logos Fleisch werden konnte (Joh 1,14), sondern wie man (den jenseitigen) Gott sehen und damit zu ihm in Beziehung treten kann (Joh 1,18). Im letzteren Fall einer hermeneutischen Frage, die ihren Ausgang vom Gedanken der Transzendenz Gottes nimmt, wäre der Interpretationsrahmen doch nicht schwerpunktmäßig stoisch, sondern platonisch. Ob es der Darstellung also gelingen wird, die scholarly community von beidem zu überzeugen, davon, dass eine philosophische Interpretation dem Evangelium am angemessensten ist, und davon, dass eine solche Interpretation von stoischen Parametern auszugehen habe, das wird abzuwarten bleiben. Eine interessante und herausfordernde Lektüre bietet das Buch auf jeden Fall.