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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

61–63

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Katrin

Titel/Untertitel:

Lobe den Herrn, meine »Seele«. Eine kognitiv-linguistische Studie zur næfæš des Menschen im Alten Testament.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 359 S. m. 2 Abb. u. 1 Tab. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 215. Kart. EUR 70,00. ISBN 978-3-17-034436-5.

Rezensent:

Alexandra Grund-Wittenberg

Die Monographie ist die überarbeitete Fassung einer von Andreas Wagner betreuten, 2016 an der Theologischen Fakultät der Uni-versität Bern angenommenen Dissertation. Ihre Fragestellung ist im Kontext der neueren Diskussion zur Anthropologie des Alten Testaments anzusiedeln, insbesondere zur Frage, was die von Hans Walter Wolff so genannten »anthropologischen Hauptbegriffe« næfæš, bāśār, a und l ēb über Besonderheiten des alttestamentlichen Menschenbilds auszusagen vermögen. Die vorliegende Ar­beit stellt die Frage nach Bedeutungsspektrum und angemessener Übersetzung von næfæš erneut, nimmt dabei Anfragen der Forschung am Rückschluss von sprachlichen Aussagen auf ein ›synthetisches‹ oder spezifisch ›hebräisches Denken‹ auf und bringt hierfür Einsichten der kognitiven Linguistik in Anschlag.
Nach einer kurzen Einleitung in Fragestellung und Vorhaben (1., 11–18) folgt ein sehr ausführlicher, insgesamt aber instruktiver Forschungsgeschichtlicher Überblick (2., 19–99), der die Kritik an der traditionsreichen Konstruktion des hebräischen Denkens im Ge­gensatz zum griechischen und zum modernen bereits durchbli-cken lässt. Diese Kritik wird unter Zugrundelegung von Einsichten der kognitiven Linguistik erhärtet im Kapitel Methodische Grundlagen (3., 100–125), in dem Müller u. a. völlig zu Recht die um sich greifende mangelnde Unterscheidung zwischen Wort (bzw. Ausdruck) und Begriff (bzw. Konzept) kritisiert. Sprachliche Metonymien, wie etwa im Deutschen »eine helfende Hand« u. ä., seien keine rhetorischen Tropen; vielmehr liegt ihnen eine konzeptuelle Metonymie, nämlich der Denkmechanismus ›Körperteil für Person‹ zugrunde, der dazu dient, einen bestimmten Aspekt der Person hervorzuheben – im Fall des o. g. Beispiels tatkräftig Hilfe zu leisten. Da konzeptuelle Metonymien in vielen Sprachen und insbesondere in der Poesie verbreitet sind, lasse sich aus ihrem Ge­brauch kein eigenes hebräisches Denken ableiten, wenngleich konzeptuelle Metonymien sprachlich und interkulturell stark vari-ieren. Das Kapitel Die Bedeutungen des Wortes næfæš (4., 126–205) stellt das – freilich durchaus bekannte – Bedeutungsspektrum von næfæš in seinem inneren Zusammenhang dar. Bei der vieldiskutierten Frage, ob næfæš auch ›Leiche‹ bedeuten kann, wird unter Hinweis auf den Gebrauch in Rechtstexten zu Recht für die Bedeutung ›Person/menschliches Rechtsobjekt‹ optiert (4.5). Die Übersetzung von næfæš mit ›Seele‹ wird abgelehnt, da das deutsche Wort ›Seele‹ nicht nur als Gesamtheit dessen, was das Fühlen und Empfinden eines Menschen ausmacht, sondern fast notwendig auch als ›unsterblicher, körperloser Teil‹ des Menschen im Rahmen eines dicho- oder trichotomischen Menschenbildes aufgefasst und da­mit missverstanden wird (4.6). Das Kapitel Der Mensch als næfæš und die næfæš des Menschen (5., 206–304) betont die elementare Einsicht, dass mit einer Analyse des Wortgebrauchs von næfæš das Menschen- oder Personkonzept des Alten Testaments nicht erhoben werden könne. Im Unterschied zur Auffassung von Lauha sei der Gebrauch von næfæš für psychische Aspekte keineswegs eine beliebige Metonymie; vielmehr werde ein Element des eigentlich bezeichneten Konzeptes (target), in diesem Fall ›Mensch/Person‹, durch die Nennung eines spezifischen Konzeptes (source) aus derselben Domain und damit – im Unterschied auch zum Pronomen– ein spezifischer Aspekt hervorgehoben. Auch der Vergleich zwischen dem metonymischen Gebrauch des suffigierten Wortes næfæš und dem anderer suffigierter Körperteilbezeichnungen, wie etwa von lēb ›Herz‹, belegt, dass sie nicht austauschbar sind. Die typischen Kontexte des Gebrauchs von næfæš für Verlangen/Be­gehren bzw. Ab­scheu sowie Lebensgefahr, Lebensrettung oder Hilfsbedürftigkeit erweisen sich dabei als durchaus aussagekräftig für die alttestamentliche Rede vom Menschen. ›Vitales Selbst‹ oder ›intentionales Ich‹ seien zwar treffende wissenschaftliche Um­schreibungen von næfæš, aber keine geeigneten Äquivalente in einer deutschen Bibelübersetzung. Komparatistisch könne næfæš am ehesten als Vitalseele/Organseele eingeordnet werden, die im Un­terschied etwa zur ägyptischen Ka-Seele aber kein über den Tod hinaus bestehender, immaterieller Doppelgänger sei.
An geeigneten Stellen werden Exkurse zu anliegenden Themenbereichen eingeschaltet: Exkurs 1 Die Wurzel im Akkadischen (138–141) behandelt freilich kein Verb, sondern das etymologisch verwandte akkadische Nomen napištu, das im Unterschied zu næfæš nicht auf Emotionen wie Freude, Verlangen oder Begehren bezogen werde. Exkurs 2 nfš in der althebräischen Epigraphik (179–181) muss sich auf den einzigen hebräischen epigraphischen Beleg, bnpškm im Ostrakon Arad 25, beschränken, das im Sinne persönlicher Verantwortung bzw. Androhung der Todesstrafe zu deuten sei. Nach Exkurs 3 npš im Kontext des Totenkults und zur Bezeichnung einer Grabstele (191–195) werde in der aramäischen Katamuwa-Inschrift die npš, somit die Person Katamuwas, während des jährlichen Festmahles in der Stele präsent gedacht, was die spätere Bedeutungsentwicklung von npš hin zu ›Grabstele‹ hinreichend erkläre. Nach Exkurs 4 Die næfæš Gottes (245–251) werde næfæš im Zusammenhang mit JHWH gebraucht, um dessen Verlangen oder seine Ab­scheu zum Ausdruck zu bringen, während der Aspekt der bedrohten Lebendigkeit, im Unterschied zum Gebrauch beim Menschen, keine Rolle spiele. Nach Exkurs 5 ψυχή im Neuen Testament (294–297) werde der alttestamentliche Sprachgebrauch im Neuen Testament vielfach weitergeführt, wobei freilich, methodisch problematisch, der Sprachgebrauch der LXX außer Acht ge-lassen wird. Nach Exkurs 6: næfæš ḥajjāh (301–302) sei durch den exilisch-nachexilischen Gebrauch von næfæš für (Rechts-)Person der Aspekt der Lebendigkeit verblasst, der durch das Adjektiv ḥaj ›lebendig‹ in der Wendung næfæš ḥajjāh neu betont werde. Eine Zusammenfassung (6., 305–317) beschließt die Arbeit.
Die vorliegende Monographie lotet die Reichweite der kontextsensiblen Analyse des Wortgebrauchs von næfæš genau aus und kann eine ganze Reihe vieldiskutierter Fragen der næfæš-Problematik auf dem methodisch gesicherten Boden der kognitiven Linguistik beantworten. Angesichts des denkbar plausiblen Ergebnisses, dass ›Seele‹ als deutsche Übersetzung von næfæš ungeeignet ist, ist der Titel der Publikation freilich überraschend gewählt, zumal, im Unterschied zur nahezu gleichnamigen Dissertation von Ann-Kathrin Fiß (Lobe den Herrn, meine Seele! Psalm 103 in seinen Kontexten, WMANT 156, Göttingen 2019) der zitierte Ps 103 bzw. 104 in der vorliegenden Studie nicht eigens behandelt wird. Die in Kapi-tel 4 und 5 besprochenen, wenig transparent ausgewählten Textstellen hätten sich quantitativ noch einschränken lassen können zugunsten einer jeweils eingehenderen exegetischen Auseinandersetzung. So werden loci classici wie Gen 2,7 (186) oder Dtn 6,5 (287 f.) eher verkürzt abgehandelt. Die Ergebnisse der Untersuchung hätten zudem besser gesichert werden können durch Zusammenfassungen am Ende der Abschnitte von Kapitel 4 sowie der Unterabschnitte 5.2.2 und 5.2.3. Gelegentlich werden Unterthemen nicht aus Sachgründen behandelt, sondern weil sie »interessant« (294) oder »[s]pannend« (302) seien. Wertvoll ist diese Arbeit aber insbesondere, weil sie die bereits vielfach geäußerte Kritik an voreiligen Schlussfolgerungen aus der Semantik auf das Menschenbild des Alten Testaments auf eine deutlich fundiertere Basis stellt als zuvor.