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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

57–58

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kiefer, Jörn

Titel/Untertitel:

Gut und Böse. Die Anfangslektionen der Hebräischen Bibel.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 493 S. = Herders biblische Studien, 90. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-451-37793-8.

Rezensent:

Bernd Janowski

Was ist das Böse und was das Gute? Und wie unterscheidet man Gut und Böse voneinander? Diese Fragen, die zu den Grundthemen jeder Ethik gehören, erfahren in den einzelnen Kulturen und Re-ligionen zum Teil übereinstimmende, zum Teil aber auch unterschiedliche Antworten. Das gilt nicht nur für die philosophischen und christlichen Traditionen Europas (s. O. Höffe, Lexikon der Ethik, München 7. Aufl. 2008, 127–129), sondern auch für die ethischen Konzepte der vorhellenistischen Antike (s. H.-G. Nesselrath/F. Wilk [Hrsg.], Gut und Böse in Mensch und Welt. Philosophische und religiöse Konzeptionen vom Alten Orient bis zum frühen Islam [ORA 10], Tübingen 2013) einschließlich des Alten Testaments. Man nehme nur Aussagen wie »Und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31), »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist« (Gen 2,18) oder »Ist es nicht so: Wenn du (sc. Kain) es gut sein lässt …« (Gen 4,7), die nicht nur verschiedenen Überlieferungszusammenhänge angehören, sondern die, in ihrem jeweiligen Nahkontext gelesen, nicht leicht zu verstehen sind.
Das Buch von Jörn Kiefer, eine von der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald angenommene Habilitationsschrift, geht diesem Thema in zwölf Kapiteln nach. Es beschränkt sich dabei auf die biblische Urgeschichte (Gen 1–11), weil diese Konzeptionen enthält, die für alles Folgende grundlegend sind: »Sie stehen am Anfang der abendländischen Denktradition über Gut und Böse. Sie sind, in ihrer Endgestalt, bewusst als Anfang eines biblischen Kanons konzipiert. Und sie wollen selbst vom Anfang erzählen: vom Anfang der Menschheit, vom Anfang der Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Mensch und darin auch vom Anfang des Guten und Bösen« (5). K. geht nach einer kurzen Einleitung zur Absicht und Methode seiner Arbeit (13–17) von einer semantischen Klärung der Begriffe für »Gut« (Wurzeln t.wb und jt.b) und »Böse« (Wurzel rʻʻ) (19–44) aus und hält fest, dass das Gute funktional bestimmt wird, dass es relational ist und dass es als Erfüllung einer geschöpflichen Bestimmung gilt (23 ff.). Das trifft – kaum überraschend – auch auf den Kontrastbegriff des Bösen zu, das darüber hinaus noch als »Sünde«, »Unreinheit« u. a. qualifiziert wird (31 ff.). Gegenüber diesen Ausführungen, die sich auf weite Strecken wie ein ausführlicher Lexikonartikel lesen, kreist K. im zweiten Kapitel (45–86) sein Thema etwas näher ein, indem er nach Vorüberlegungen zu Gen 1–11 (die durchaus kürzer hätten ausfallen können, da viel altbekanntes Einleitungswissen wiederholt wird) auf sein Thema im engeren Sinn zu sprechen kommt: »Das Vokabular von Gut und Böse in der Urgeschichte« (83 ff.). Diese knappen Bemerkungen sind sehr nützlich.
Mit dem dritten Kapitel (87–118) wendet sich die Arbeit endlich den Textbeobachtungen im Einzelnen zu. Statt einer systematischen Präsentation der priesterlichen, nichtpriesterlichen und endredaktionellen Stoffe und ihrer Aussagen zu Gut und Böse entscheidet sich K. für eine bibelkundliche Aneinanderreihung und beginnt seine Darstellung mit Gen 1,1–2,4a und beendet sie mit Gen 11,1–9. Grundlegend für das, was »gut« ist, sind die entsprechenden Aussagen im priesterlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,4.10.12.18.21.25.31). Das Gute lässt sich dabei »im lebenspraktischen Sinne als das Lebensförderliche und im theologischen Sinne als der geschöpflichen Bestimmung Gemäße« (89) bezeichnen, das Böse aber als das, was dem Guten entgegensteht und das Schöpfungsgemäße stört (102 ff.). Ob es allerdings, wie K. offenbar meint, mit der Vorweltschilderung von Gen 1,2 (Tohuwabohu, Finsternis) in Zusammenhang gebracht werden kann, ist mehr als fraglich (s. etwa B. Ja­nowski, Die Welt des Anfangs, in: Ders., Der nahe und der ferne Gott, Neukirchen-Vluyn 2014, 3–29, hier: 5 ff.). Das vierte (Paradieserzählung: 119–223) und das fünfte Kapitel (Brudermorderzählung: 225–246) sind dem Erzählbogen von Gen 2,4b–4,26 und seinen Gut/Böse-Aussagen gewidmet (Gen 2,12; 3,6; »nicht gut«: Gen 2,18; Erkenntnis von Gut und Böse: Gen 2,9.17; 3,5.22; gut machen: Gen 4,7). Schon die Ausführlichkeit dieser beiden Kapitel zeigt, dass hier – neben dem dritten Kapitel – der Schwerpunkt der Darstellung liegt. Sehr gelungen sind dabei die Ausführungen zu Gen 3 (140 ff.) und besonders zum Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (142 ff.). Das gilt auch von der Exegese von Gen 4 (225 ff.), obwohl der Rezensent – und wohl auch K. (?) – der vorgeschlagenen Interpretation der berühmten crux interpretum Gen 4,7 (232 ff.) nicht folgen kann. Die Frage nach Gut und Böse erhält in der Brudermorderzählung jedenfalls eine denkbar bedrückende Konkretion (243 ff.), denn sie ist anthropologisch realistisch und führt, wie das Handeln Gottes an Kain zeigt, zu einer überraschenden Konsequenz. Gleichwohl gehört sie zu den Faktoren, die dann die Flut auslösen.
Das kurze sechste Kapitel zu Gen 6,1–4 (247–267; gut/schön/ wohlbeschaffen: Gen 6,2) unterbricht den Gedankengang, der mit der Analyse der Fluterzählung Gen 6,5–9,17 und ihrer beiden Schlüsselbelege Gen 6,5/8,21 (269–320) wieder aufgenommen wird. K. diskutiert zunächst die redaktions- und religionsgeschichtlichen Fragen (269 ff.271 ff.274 ff.), um dann den nichtpriesterlichen Flutprolog Gen 6,5–8 (276 ff., dabei Übersetzung von ʻs.b hitp. in Gen 6,6 zu Recht mit »Schmerzen empfinden«), die priesterliche Flutbegründung Gen 6,11–13 (290 ff.) sowie den Neuanfang nach der Flut (nichtpriesterlicher Flutepilog Gen 8,20–22: 304 ff.; priesterlicher Flutepilog Gen 9,1–17: 312 ff.) zu analysieren. Das Fazit hält die Hauptergebnisse fest (317 ff.) und konturiert noch einmal die Theologie der beiden Erzählfäden (P und Nicht-P). Obwohl Gen 9,18–29 (321–337) und 11,1–9 (339–366) keine Gut/Böse-Aussagen im engeren Sinn enthalten, widmet K. diesen Erzählungen eingehende Überlegungen, weil sie auf je eigene Weise die Ambivalenz der menschlichen Existenz bzw. den dem Menschen »wesenseigenen Hang zum Bösen« (337, in Aufnahme einer Formulierung von M. Witte) zum Ausdruck bringen. Und schließlich: Während das zehnte Kapitel (367–386) das Leitthema in den Erzählzusammenhang von Gen 1–11 einzeichnet, resümiert K. im elften Kapitel (387–402) die »Grund-züge von Gut und Böse in der Urgeschichte« und rundet seine Darstellung im zwölften Kapitel (403–438) durch zusammenfassende Thesen (die allerdings mehr sind als Thesen) ab.
K.s Buch, das sieben Exkurse enthält (»Paradiesgeografie«, 126–136; »Lebensbaum«, 153–156; »Die zwei Bäume«, 157–160; »Nacktheit und Scham«, 178–183; »Die Fluchformeln«, 183–185; »Ez 28«, 187–189; »Autonomie und Theonomie«, 195–198; sie hätten im Inhaltsverzeichnis ausgewiesen werden können), ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der biblischen Urgeschichte. Es behandelt das zentrale Thema »Gut und Böse« auf eine Weise, die für die künftige Forschung zahlreiche weiterführende Einsichten bereithält. Obwohl K. des Guten manchmal zu viel tut (Wiederholung von bekanntem Einleitungswissen in Kapitel 2; entbehrlicher Exkurs zur Paradiesgeographie; Redundanzen in den Kapiteln 10–12), sei es nachdrücklich zum intensiven Studium empfohlen. Dabei hilft auch der Anhang (439–493) mit seinem ausführlichen Literaturverzeichnis und den diversen Registern (Stellen, Sachen, hebräische Begriffe).