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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

50–51

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Miroshnikov, Ivan

Titel/Untertitel:

The Gospel of Thomas and Plato. A Study of the Impact of Platonism on the »Fifth Gospel«.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 273 S. = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 93. Geb. EUR 121,00. ISBN 978-90-04-36728-9.

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Bei dieser Studie von Ivan Miroshikov handelt es sich um die Veröffentlichung einer Dissertation, die 2016 an der Universität von Helsinki eingereicht und erfolgreich verteidigt wurde. Sie widmet sich einem Themenfeld, das in englisch-sprachigen und skandinavischen Regionen nach wie vor wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht, als dies in deutschsprachigen Regionen der Fall ist, nämlich dem Thomasevangelium im Speziellen und seiner Bedeutung für das Verständnis des frühen Christentums im Generellen. Da-bei positioniert sich M. selbst in den überaus kontroversen Forschungsdiskursen bereits durch den Untertitel seiner Studie, in­dem er das Thomasevangelium im Sinne einer weit verbreiteten Einschätzung als das »fünfte Evangelium« bezeichnet. Der primäre Fokus gilt der Profilierung der religionsgeschichtlichen Hintergründe des Thomasevangeliums, und zwar speziell der Frage, welche Bedeutung platonische Denkstrukturen für seine Interpreta-tion haben.
Die Studie lässt einen klaren und inhaltlich-sachlich nachvollziehbaren Aufbau erkennen. Die Einleitung (11–44) bringt zu­nächst zur Geltung, welche Bedeutung mittelplantonische Konzeptionen generell für das Verständnis des frühen Christentums haben. Neben den entsprechenden Zügen des Thomasevangeliums wird dabei auch ein Werk betrachtet, welches seinerseits in einem komplexen Verhältnis zum Thomasevangelium steht, nämlich das Johannesevangelium (11–15). Daraufhin werden in sieben Kapiteln Themenfelder betrachtet, an denen die Bedeutung platonischer Denkansätze für die Logien des Thomasevangeliums signifikant zutage treten, nämlich die jeweiligen Verständnisse der körperlich-kosmischen Dimensionen menschlicher Existenz (45–70), das Verhältnis derjenigen Aspekte menschlicher Existenz, die mit Be-griffen wie »Seele«, »Geist«, »Körper«, »Materie« bezeichnet werden (71–90), das Motiv der Einswerdung (91–129), die Metaphorik des Stehens bzw. der Stabilität der Existenz (130–162), die Motive von Unveränderlichkeit und Unsichtbarkeit (163–187), die Kontrastierung von Frieden und Wut bzw. Ruhe und Unruhe (188–220) und die Vorstellung einer Abbildhaftigkeit der vorfindlichen Existenz (221–256). Auch wenn in jedem dieser Kapitel die jeweiligen Erträge komprimiert zusammengefasst werden, so werden die sie verbindenden Einsichten als ein Gesamtfazit der Studie abschließend benannt (257–260). Neben einer Bibliographie und einem Index wird die Studie zudem durch Appendizes ergänzt, welche für entsprechende Diskurse zum Thomasevangelium zwar von Relevanz sind, die aber für die primäre Fragestellung etwaiger platonischer Hintergründe nicht von zentraler Bedeutung sind.
Prinzipiell kann festgehalten werden, dass die Studie von M. überaus wertvolle Diskursbeiträge bietet. In Bezug auf jedes der skizzierten Themenfelder kann M. überzeugend darlegen, dass die themenspezifisch relevanten Logien des Thomasevangeliums nicht ohne Einbeziehung platonischer Referenzgrößen angemessen verstanden werden können. Im besonderen Maße gilt dies für diejenigen Texte dieses Werkes, die unverständlich bzw. widersinnig erscheinen, wenn man sie lediglich vor dem Hintergrund alttestamentlich-frühjüdischer Traditionen zu interpretieren versucht (vgl. die Ausführungen zu EvThom 7; 61; 83; 84 etc.). In dieser Hinsicht führt M. konsequent Diskurse fort, die seit der Wiederentdeckung des Thomasevangeliums im Speziellen und der Nag-Hammadi-Kodizes im Generellen in Bezug auf verschiedene Fragegestellungen formuliert wurden. Seine Einsichten führen M. zu einer Benennung eines Forschungsdesiderats, dass auch meines Erachtens zukünftig viel Energie der Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer auf sich ziehen wird: »The history of early Christian engagement with Platonism is yet to be written. While quite a few scolars have recently written in Platonizing tendencies in particular early Christian texts […], a lot of work is still ahead of us before the appearance of a study offering a comprehensive analysis of the phenomenon.« (260)
Lediglich ein Aspekt soll im Rahmen dieser Rezension kritisch angemerkt werden. Wie in vielen früheren Diskursbeiträgen wird meines Erachtens auch in dieser Studie zu wenig profiliert, inwiefern derartige Zeugnisse eines platonischen Christentums nicht nur eine Adaption platonischer Denkansätze sind, sondern inwiefern es sich bei ihnen auch um neue Facetten in der komplexen Geschichte des antik-mediterranen Platonismus handelt. Mit an­deren Worten: Warum machen sich die Autoren bzw. Trägerkreise, die hinter den verschiedenen Entwicklungsstadien eines Werkes wie dem Thomasevangelium stehen, die Mühe, sich selbst in die Tradition platonischer Denkansätze zu stellen? Angesichts der weiten Verbreitung platonischer Denkansätze in der Umwelt des frühen Christentums hätte es nicht der Mühe bedurft, einen Wanderprediger als Galiläa zu einem Traditionsgaranten für platonische Welt- und Menschenbilder zu stilisieren. Die Anlässe und Hinterg ründe derartiger Entwicklungen gilt es im Rahmen der von M. benannten Forschungsdesiderate ebenfalls zu berücksichtigen. Durch solche Rückfragen wird jedoch der prinzipielle Wert der Disseration nicht gemindert. Stattdessen soll abschließend nochmals hervorgehoben werden, dass M. einen wichtigen Beitrag zu weiteren Erforschung der platonischen Hintergründe des Thomasevangeliums im Speziellen und des frühen Christentums im Gernerellen vorlegt hat, der in jeder weiteren Diskussionen zu diesem Themenfeld zu berücksichtigen sein wird.