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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

43–47

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Focken, Friedrich-Emanuel, u. Michael R. Ott [Hrsg./Eds.]

Titel/Untertitel:

Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur. Metatexts: Nar­rarives about Artifacts with Written Texts in the Literature of the Old Testament and Middle Ages.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. VIII, 380 S. m. 2 Tab. = Materiale Textkulturen, 15. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-041793-7.

Rezensent:

Beate Ego

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Meier, Thomas, Ott, Michael R., u. Rebecca Sauer [Hrsg./Eds.]: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Material Text Cultures. Concepts – Materials – Practices. Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XI, 746 S. m. 174 Abb. = Materiale Textkulturen, 1. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-037128-4.


Der erste hier zu besprechende Sammelband arbeitet interdisziplinär und ist herausgegeben von dem Alttestamentler Friedrich-Emanuel Focken und dem Mediävisten Michael R. Ott, geht auf eine Autorenkonferenz zurück, die unter dem Titel »Praktiken schriftlicher Kommunikation. Die Produktion und Rezeption von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur« im Jahre 2014 in Heidelberg stattfand. Diese Konferenz wiederum stand im Kontext des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 933 »Materiale Textkulturen«, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die »die Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften« zu erforschen (www. materiale-textkulturen.de/publikationen.php). Der Band versammelt Einzelstudien aus den Bereichen Altes Testament, Judaistik, Germanistik, Anglistik und Romanistik, die sich mit der Analyse von Metatexten, also mit Texten, »in denen – auf unterschiedliche Art und Weise – Schriftstücke, deren Materialien und/oder die an und mit ihnen vollzogenen Handlungen thematisiert werden« (s. zur Definition die Einleitung von Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott »Metatexte und schrifttragende Artefakte«, 1–9, hier: 1).
Das Werk ordnet die unterschiedlichen alttestamentlichen und mittelalterlichen Beiträge den Kategorien »Schrifttragende Artefakte aus der Bildungspraxis im antiken Israel und seinem Kontext«, »Schrifttragende Artefakte im Alten Testament«, »Schrifttragende Artefakte in der mittelalterlichen Literatur«, »Kommuni-kation und Medialität« sowie »Metatextualität und Notation am Beispiel mittelalterlicher Handschriften« zu. Es handelt sich um durchweg interessante und gewichtige Artikel, in denen sich auf unterschiedliche Art und Weise die Breite dieses Forschungsfeld spiegelt, das in den letzten Jahren in unterschiedlichen Disziplinen und auch interdisziplinär zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.
Reale schrifttragende Artefakte untersucht Erhard Blum in seinem Beitrag »Die altaramäischen Wandinschriften vom Tell Deir ʻAlla und ihr institutioneller Kontext« (21–52). Die beiden altaramäischen Wandinschriften vom Tell Deir ʻAlla, die vermutlich um 800 v. Chr. entstanden sind, stellen interessante Vergleichstexte zur Hebräischen Bibel dar. Bei der ersten Inschrift handelt es sich um eine »weisheitlich adaptierte Prophetenerzählung« (24), die mit der Figur Bileams aus Num 22–24 in Beziehung zu stehen und zudem eine Unheilsprophetie ohne Herrscherbezug aus einer Zeit vor der Verkündigung des Propheten Amos zu enthalten scheint. Die zweite Inschrift beinhaltete einen weisheitlichen Dialog, der sich mit der Thematik Vergänglichkeit und Verantwortung auseinandersetzt. Nach Ausführungen zur Rekonstruktion, der Form und des Inhaltes der beiden (fragmentarischen) Inschriften (eine Übersetzung in Auszügen stellt Blum seinem Beitrag hinten an, s. 44–48) und des archäologischen Kontextes greift Blum die lang ignorierte These von André Lemaire auf, wonach es sich bei dem Gebäude, in dem die Inschrift entdeckt wurde, um eine Schule handelte. Weiterführend zieht er dann den Schluss, dass eine solche Institution an einem Ort wie Deir ‘Alla, der eher peripheren Charakter hatte, wiederum entsprechende Strukturen in der Hauptstadt und deren Umkreis voraussetzt, was insgesamt wiederum generell auf ein hohes Bildungsniveau im israelitischen Raum zur Entstehungszeit der Texte schließen lässt. »Diese Schriftkultur mit einem entsprechenden Schulbetrieb wird weit in das 9. Jh. v. Chr. zurückgereicht haben, eventuell auch darüber hinaus.« (41) Der Beitrag endet mit Überlegungen zu den Konsequenzen dieses Befundes für die Schriftkultur und das Schulwesen in den Königreichen Israel und Juda. So dürften nach Blum auch Überlieferungen zu Jakob, Saul und David, die das Grundgerüst der weiteren alttestamentlichen Literaturwerdung bilden, in die frühe Königszeit verweisen. Ihr Stil zeigt deutlich, dass Elite-Schulen auch am Jerusalemer Hof existierten. Hinsichtlich des literarischen Charakters dieser Texte be­tont der Autor, dass es noch keine Kategorie der Fiktion gab, sondern dass Texte stets »Mitteilungstexte« von hoher literarischer Qualität und mit Wahrheitsanspruch waren: »Poetizität ist in diesen Kulturen […] nicht an Fiktionalität gebunden – ebenso wenig, wie ihr Wirklichkeitsverständnis und ihr Wahrheitsanspruch etwas mit historischen Denken zu tun hätten« (43).
Biblische Texte, die auf die Produktion von schrifttragenden Artefakten referieren, stehen im Zentrum des Beitrags von Reinhard Müller, der auf der Basis von Jes 8,1.16 und 30,8 die Verschriftung eines Prophetenwortes nachzeichnet (»Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch«, 99–122). Der Vf. stellt zunächst die Besonderheit der biblischen Prophetie gegenüber anderen altorientalischen Prophetien heraus, da erstere nicht nur eine Nie-derschrift der eigentlichen Prophetie zur Übermittlung an den Empfänger waren (wie es bei letzteren öfters vorkam), sondern das prophetische Wort sich hier gar nicht mehr von seiner Buchform trennen lässt. Müller arbeitet für das Jesajabuch die Verschriftung in drei Etappen heraus, auf die er detailliert eingeht: Der göttliche Auftrag zur Niederschrift (Jes 8,1 f.), die »Versiegelung« der Prophezeiung (Jes 8,16–18) und die erneute Anweisung, alles in ein Buch zu schreiben und dieses zu verwahren (Jes 30,8–11). Anhand dieser drei Anweisungen erläutert der Vf. den Grund für die Verschriftung in Buchform. »Das schriftlich Festgehaltene dokumentiert, dass die göttliche Weisung ›nicht gehört‹ wurde, weil die Adressaten dieser Botschaft sich als ›widerspenstiges Volk‹ erwiesen haben; diese Zeugenschaft überdauert die ursprünglichen Adressaten der ›Weisung Jahwes‹, was der verschrifteten Botschaft zeitlich unbegrenzte Geltung verleiht« (117). Durch die Niederschrift erhält das Prophetenwort also eine zusätzliche (über-)zeitliche Dimension, die eine sehr viel spätere Rezeption (in einen neuen Kontext) erlaubt und somit den späteren Adressaten die Möglichkeit gibt, nun auf die Botschaft Gottes »richtig« zu reagieren. Gleichzeitig erweitert sich die inhaltliche Dimension. »Die Lektüre des verschrifteten Prophetenwortes ermöglicht den Rückblick auf die vergangene kommunikative Situation, […] denn nur dank der Verschriftlichung wurde es möglich, aus der – zutiefst gestörten – Kommunikation zwischen Jahwe und dem Volk herauszutreten und den Inhalt dieser prophetischen Botschaft als göttliche ›Weisung‹ zu erkennen.« (120)
Aspekte der Kommunikation und Medialität, die innerhalb des Sonderforschungsbereiches einen neuen Akzent bilden, behandelt der Beitrag von Joachim Schaper »Anthropologie des Schreibens als Theologie des Schreibens. Ein medienarchäologischer Gang durch das Buch Exodus« (281–296). Hier widmet sich der Autor auf der Basis verschiedener Erzählungen aus dem Buch Exodus (insbesondere Ex 3; 19.20; 32–34) ausführlich den unterschiedlichen »Medien« (wie Stimme, Schrift, erfahrene Präsenz oder diverse Erscheinungen), derer Gott sich für seine Kommunikation mit Mose und dem Volk bedient, und die von der Beziehung zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort geprägt sind. Dabei »kann Ex 32–34 als der Höhe- und Endpunkt des Nachdenkens über die Korrelation von Sprechen, Schreiben und Bildproduktion im Exodusbuch gelten« (293). Da das unmittelbare Sehen und Hören Gottes als lebensgefährlich ausgeschlossen und das mediale Sehen Gottes verboten ist, bleibt nur das vermittelte Hören (über Mose) und dann vor allem das Medium Schrift als » das einzige akzeptable visuelle Medium, und zwar einzig und allein deshalb, weil es, qua Notation, im Dienste der gesprochenen Sprache steht« (294). So folgert Schaper auf eine hier entwickelte »Theologie des Schreibens«: Die Stimme Gottes ist in der Schrift »hörbar« und letztere ist für alle an seiner Statt sichtbar. Die abschließenden Worte dieses Beitrags sind für die Entwicklung der jüdischen und christlichen Religion von höchster Bedeutung: »Zugleich geht aber auch etwas von der Aura des direkten Sehens auf die Schrift über: Als Notation der lebendigen Stimme Gottes ist sie Teil des Kontinuums der Formen der Präsenz Gottes in seiner Kommunikation mit den Menschen, doch als visuelles Medium ersetzt sie in ihrer Sichtbarkeit gleichsam Gott selbst – der ja durchaus sichtbar ist, sich aber unseren Blicken entzieht, wie es uns das Exodusbuch lehrt. Nun aber werden in dem und durch das Sehen, das beim Lesen geschieht, die gesprochenen Worte wieder hörbar gemacht. Der Gott Israels ist nicht zu sehen, doch an seiner Stelle steht die Schrift; seine Stimme ist nicht zu hören, doch sie erklingt in der Schrift« (294; alle Hervorhebungen im Original).
Auch in der letzten Rubrik des Bandes findet sich ein Beitrag, der für die alttestamentliche Wissenschaft bedeutsam ist und der einen Aspekt behandelt, der bislang zwar in der jüdischen Forschung eine Rolle spielt, aber zumindest in der herkömmlichen deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft bislang nur wenig Beachtung gefunden hat, nämlich die Erforschung der Schriftkultur der Hebräischen Bibel. In ihrem Beitrag »Ein Pentateuch wie andere auch? Die Lese-Geheimnisse des Regensburg Pentateuchs« (299–334) zeigt Hanna Liss, dass sich hinter der äußeren Form des um 1300 angefertigten Regensburg Pentateuch halakhische Diskurse bzw. Hinweise auf theologische Auslegungen erkennen lassen, die nicht selbst-evident sind, sondern nur einer religiösen Elite, den sogenannten Chaside Aschkenaz, zugänglich waren. Hier kommt insbesondere den sogenannten Tagin – d. h. kleinen Zeichen in der Form eines Krönchens, die einzeln oder auch mehrfach über einzelnen Buchstaben platziert werden – eine wichtige Bedeutung zu. Sie markieren bestimmte Buchstaben, die dieje-nigen, die in der Schriftauslegung kundig waren, wiederum auf Midraschim zu den entsprechenden Textstellen oder auf andere re­ligiöse Bedeutsamkeiten verweisen konnten (z. B. fünf Krönchen über einem Buchstaben verweisen auf die fünf Bücher der Tora – um hier ein einfaches Beispiel zu nennen). Dieser Vorgang er­schließt sich aber nur über das Auge und nicht über das Hören des Textes. Aufschlussreich sind auch die einleitenden Ausführungen der Autorin, in der sie Geschichte der Verwendung von Rollen und Codices für die Texte der Hebräischen Bibel nachzeichnet, und so eröffnet der Beitrag einen Blick in faszinierende Welt der mittelalterlichen jüdischen Schreiberkultur.
Diese Hinweise auf einzelnen Beiträge in diesem Band haben exemplarischen Charakter; um den Umfang einer Rezension nicht zu sprengen, wurde hier aus jeder der unterschiedlichen Kategorien, die für die alttestamentliche Wissenschaft interessant sind, je­weils auf einen Beitrag verwiesen.
Der inhaltliche Reichtum dieses Bandes ist damit noch lange nicht erschlossen. Weitere Beiträge, die das Forschungsfeld der Me­tatexte für die alttestamentliche Wissenschaft vorbildlich präsentieren, wurden von David Carr (»Writing That Dares Not Speak Its Name. Writing About Orality and Inscribed Amulet Practice in Ancient Israelite Educational Texts«, 53–74), Daniel Stökl Ben Ezra (»Bücherlesen im Jachad Qumrans. Himmlische Bücher zwi-schen Katechese, kollektivem Studium und esoterischer Geheimschrift«, 75–95), Konrad Schmid (»Schrift und Schriftmetaphorik in der Prophetie des Jeremiabuchs«, 123–144), Friedrich-Emanuel Focken (»Ezechiels Schriftrolle. Die Konzeption seiner Prophetie im Berufungsbericht [Ez 1–3], 145–175), und Jan Christian Gertz (»Mose zerbricht die Tafeln des Bundes am Sinai – Literarhistorisch ausgereizt, aber praxeologisch unterschätzt?«, 177–201) erstellt.
Im Kontext der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs »Materiale Textkulturen« entstand auch der von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer herausgegebene Band »Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken«. Es handelt sich dabei um eine Art Kompendium, das allgemein in das Forschungsgebiet »Ma­teriale Textkulturen« (»Konzepte – Materialien – Praktiken: Einleitung und Gebrauchsanweisung«, 16) sowie in Entstehung und Entwicklung des Heidelberger SFB 933 (7–18) einführt. Dann folgen umfangreiche Artikel zu Konzepten (mit einzelnen Artikeln zu Material; Materialität; Artefakt; Affordanz; Bedeutung; Präsenz; Kontext; Topologie; Material[itäts]profil – Topologie – Praxeographie; Praxeologie; Netzwerkanalyse; Geschriebenes; Schriftzeichen; Ludwig Traubes Überlieferungsphilologie; Textkulturen; Typographisch/non-typographisch; Metatext[ualität]; Edition; [Radikal]Philologie), Materialien (mit Artikeln zu Stein; Putz; Ton; Metall; Papyrus; Leder; Pergament; Zwischen Pergament und Papier; Papier; Wachs; Holz; Naturmaterialien; Papier oder Seide?; Textilien; Menschenhaut; Beurkundungen) sowie Praktiken (mit Artikeln zu Auftragen, Malen und Zeichnen; Mosaizieren; Meißeln; Ritzen; Gießen; Siegeln; Stempeln und Prägen; Einweben und Aufnähen; Abschreiben und Kopieren; Layouten und Gestalten; Mobile und immobile Schriftträger; Perzeption; Schriftakte/Bildakte; Lesen und Entziffern; Rezitieren, Vorlesen und Singen; Transzendieren; Rollen, Blättern und [Ent]falten; Sammeln, Ordnen und Archivieren; Tradieren, Wiederverwenden; Beschädigen und Zerstören).
Zahlreiche bildliche Darstellungen und ausführliche Bibliographien runden den Band ab, an dem zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mitgearbeitet haben. Der Band steckt das Feld insgesamt ab, so dass hier umfangreiches diachrones und synchrones Material der unterschiedlichsten Kulturen zusammengestellt wurde. Für Theologen aller Disziplinen sowie für Religionswissenschaftler eröffnet sich hier ein weites Feld, das als Folie für das Verständnis der eigenen Textkulturen dienen kann. Weitere Titel, die ebenfalls für die theologische Forschung bedeutsam sind, lassen sich der Homepage dieses Sonderforschungsbereiches entnehmen (https://www.materiale-textkulturen.de/publikationen. php) und man darf zudem auf die dort angekündigten, noch nicht erschienenen Titel gespannt sein.