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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

39–40

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Novick, Tzvi

Titel/Untertitel:

Piyyuṭ and Midrash. Form, Genre, and History.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 235 S. = Journal of Ancient Judaism. Supplements, 30. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-57080-7.

Rezensent:

Gabrielle Oberhänsli-Widmer

In dieser Untersuchung vergleicht Tzvi Novick, Associate Professor for Jewish Thought and Culture an der theologischen Abteilung der University of Notre Dame (Indiana), zwei verschiedene spätantike Textkorpora: homiletische Midraschim einerseits und synagogale Poesie andererseits. Dabei stellt der Midrasch – von der hebräischen Wurzel darasch, ›befragen‹ oder ›suchen‹, abgeleitet – die spezifische Schriftauslegung der talmudischen Rabbinen dar, das Befragen Gottes und das Erforschen der Thora, eine Prosagattung, welche die Hebräische Bibel aktualisierend auf die jeweilige Gegenwart des exilierten Judentums bezieht. Demgegenüber ist der Pijjut – ein vom griechischen Verb poiein, ›machen‹, hebraisiertes Nomen – ein poetisches Genre und meint eine für die Perikopenlesung am Schabbat, für Fest- und Fasttage komponierte Dichtung (›Piyyut‹ entspricht der amerikanischen Umschrift).
Die grundlegende These des Vf.s lautet dahingehend, dass sich der Pijjut die predigtorientierte Ideologie des Midrasch aneignet und diese in seine spezifisch lyrische Form übersetzt. Mithin folgt der Piyyut in seiner biblischen Rezeption ganz und gar der midraschischen Theologie. Die Pajtanim, die synagogalen Dichter, geben dementsprechend die Inhalte der Heiligen Schrift nicht persönlich oder per se wieder, sondern lesen sie mit den Augen der talmudischen Rabbinen, übernehmen deren Theologumena, deren Topoi und Metaphern, zuweilen selbst deren Formulierungen. Gemeinsam ist den beiden Genres und Korpora ebenso der konvergierende Denkhorizont, welcher die biblische Vergangenheit in die momentane Exilsituation hinein aktualisiert und sie mit dem tröstenden Ausblick auf eine messianische Zukunft öffnet. Als Zielpunkt vi-sieren sowohl Midrasch als auch Pijjut den synagogalen Gottesdienst an und teilen demzufolge auch den Sitz im Leben beziehungsweise den Sitz in der Liturgie.
Der Aufbau der Studie besteht aus zwei Teilen, wobei die ersten vier Kapitel – es handelt sich um verschriftlichte Vorträge – die eigentliche theoretische Basis bilden: Kapitel 1 behandelt Form und Formen des Midrasch, legt ein besonderes Augenmerk auf die Petichta, die Eröffnungsformel der Kleinpredigten, und stellt die Stimmen und handelnden Akteure vor, wie beispielsweise Gott, das exilierte Israel oder die gottesdienstliche Gemeinde; Kapitel 2 zeigt inhaltliche Analogien und parallele Strukturen von Midrasch und Pijjut auf; Kapitel 3 widmet sich dem Pijjut in seiner Funktion als Gebet und Doxologie; und Kapitel 4 beschreibt die rabbinisch beliebten Beispielreihen, überschaubare für eine Predigt geeignete Texteinheiten, welche das biblische Narrativ nach einem bestimmten Motiv chronologisch ordnen, so etwa die Verfolgung eines Gerechten einhergehend mit der göttlichen Bestrafung des Verfolgers von Abel und Kain über Mose und Pharao bis hin zu Israel im Exil unter der Knechtschaft eines fremden Herrschers (103 f.). Während die Argumentation in diesen vier Basiskapiteln mit vermischten Beispielen aus Pijjut und Midrasch gestützt wird, verifiziert der zweite Teil beziehungsweise die Kapitel 5–7 die aufgeworfene These an drei ausgewählten Themen: Kapitel 5 das aus dem biblischen Danielbuch bekannte Motiv der vier Königreiche, Kapitel 6 den Topos der Heilsgeschichte, und Kapitel 7 die Gebetsform des kollektiven Sündenbekenntnisses. Ein kurzes Resümee, ein Glossar, die Bibliographie und der Index runden das 235 Seiten umfassende Buch ab.
Als midraschisches Untersuchungskorpus wählt der Vf. allen voran die Pesiqta de-Rav Kahana, eine Predigtsammlung zu den Feiertagen und den ausgewählten Schabbatot, sowie den Midrasch Rabba, den talmudisch-rabbinischen Kommentar zum Pentateuch und zu den Hagiographen der Festlesungen. Beide Sammlungen sind ungefähr ins 5. Jh. n. Chr. zu datieren, während die beiden hier favorisierten großen klassischen Dichter wohl wenige Generationen später gelebt haben: Jannaj Mitte des 6. Jh.s, Eleasar ha-Qallir Ende des 6. oder anfangs des 7. Jh.s (in der vorliegenden amerikanischen Umschrift: Yannai und Qillir). Entstehungsort beider Korpora ist wahrscheinlich Galiläa, eventuell auch Judäa, die Sprache Hebräisch.
(Fast) alle Primärtexte druckt der Vf. im hebräischen (einige wenige im aramäischen) originalen Wortlaut ab und stellt ihnen eine englische Übersetzung zur Seite. Seine anschließende Analyse konzentriert sich auf einen akribischen Vergleich zwischen Midraschim und ihnen zugeordnete Pijjutim bezüglich identischer To­poi, paralleler Formulierungen und analoger Theologumena unter minutiöser Konsultation von Sekundärliteratur und Abgleichung divergierender Handschriften (217):
Together, the two parts of the book offer a complex portrait of the rela-tionship between midrash and piyyut. The appropriation of midrash texts in classical piyyut represented a massive work of creative revision, in which liturgical poets applied and reshaped exegetical texts and hermeneutical principles to a structurally and performatively novel context. But there was as much continuity as novelty. […] The rabbis and the poets alike were students of the Bible, responding to substantially similar theological and cultural pressures.
An dieser Stelle mag man eine leise Kritik in dem Sinne äußern, als eine solche Parallelomania der Virtuosität der synagogalen Ge­dichte nicht gerecht zu werden vermag. Die Pijjutim – ausgefeilte Sprachpreziosen mit ihren neu und eigenständig entwickelten Strophenformen, Reimen, Rhythmen, Akrosticha, Neologismen, mit ihrer Wortmalerei und ihrer dynamischen Weiterentwicklung des Hebräischen – kommen, auf midraschische Querverbindun-gen reduziert, nicht zu der ihnen gebührenden Geltung. Die den Pajtanim eigene Kreativität verblasst: ihre rhetorische Kraft des ›Ich‹ Gottes (187 f.), ihre berückenden Bilder wie das vom Exil als Tod im Leben (158), oder ihr poetischer Witz, wenn sie die biblische Ge­schichte am Leitmotiv eines Rindviehs aufrollen (134 ff.) – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Dennoch ist die Studie des Vf.s lesenswert und seine These einleuchtend: die identische Theologie von Midrasch und Pijjut trotz gattungsbedingter Unterschiede. Als besonders wertvoll sind schließlich die Bezüge zur spätantiken samaritanischen und christlichen Literatur zu werten, denn dies setzt denkbar weit ge­steckte literarische Horizonte voraus, über die nur wenige Judais­ten verfügen.