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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1309–1311

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wirz, Stephan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen?

Verlag:

Zürich: Edition NZN bei Theologischer Verlag Zürich; Baden-Baden: Nomos Verlag 2018. 286 S. = Schriften Paulus Akademie Zürich, 13. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-290-20167-8 (TVZ); 978-3-8487-5006-1 (Nomos).

Rezensent:

Ulrich Blum

Das Buch befasst sich aus Sicht der Kirchen mit der Rolle der marktwirtschaftlichen Ordnung, die überspitzt als Kapitalismus be­zeichnet wird. Das Lesen dieses Buches sollte zum Pflichtprogramm für alle Pfarrer und Priester und am besten auch im Examen abgeprüft werden, um die von höchster Stelle gerne vorgetragene laienökonomische Verunglimpfung freier Wirtschaftsordnungen einzudämmen. Zugleich zeigen die Beiträge auch deutlich auf, dass die Überschreitung der Bereiche, die durch Wettbewerb geordnet werden können bzw. im Sinne einer Wertorientierung sollen, genau die Probleme erzeugt, die dann der marktwirtschaftlichen Ordnung vorgeworfen werden. Ohne wettbewerbsfreie Be­reiche sind die Grundlagen freier Gesellschaften in Anlehnung an das Böckenförde-Diktum nicht zu gewährleisten. Das Buch besteht aus drei großen Teilen, in denen folgende Fragen beantwortet werden:
1) Wie kompatibel sind Kapitalismus bzw. Soziale Marktwirtschaft und die moderne evangelische und katholische Lehre? Wie stark wirkt die Trennung von Kirche und Staat (gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist) und wie stark bzw. radikal dürfen sich Entdeckungsverfahren, ökonomisch im Wettbewerb implementiert, äußern und durch welche Ordnungen werden sie eingehegt?
In vier Aufsätzen wird das Thema behandelt. Der Hochschullehrer Jochim Wiemeyer nimmt die neue Kapitalismuskritik von Papst Franziskus auf, der die Überhöhung von Geld und Wirtschaft und vor allem von Macht kritisiert, die zu Verwerfungen in den Arbeitsbeziehungen und der Umwelt führen, die der anzustrebenden Sozialen Marktwirtschaft fremd sind. Der Hochschullehrer Hermann-Josef Große-Kracht rekonstruiert die Kapitalismustheorie aus der Sicht der katholischen Soziallehre, was deshalb interessant ist, weil der von Oskar von Nell-Breuning in die Diskussion gebrachte sozial temperierte Kapitalismus erhebliche Unterschiede zur Sozialen Markwirtschaft aufweist und eher in Richtung auf staatliche Lenkungsaufgaben und nicht auf Ordnungsaufgaben geht. Der Hochschullehrer Martin Rhonheimer befasst sich im Anschluss mit dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsprimat und Zwangssolidarität – auch ein Widerspruch in der katholischen Soziallehre. Er erkennt in der Geschichte der Sozialenzykliken eine Aufgabe für eine ecclesia semper reformanda, also einen möglicherweise nicht bewältigten Reformstau in Bezug auf wirtschaftliche Tatbestände. Schließlich verweist der Hochschullehrer Stefan Grotefeld in seinem Beitrag auf das Spannungsverhältnis zwischen Protestantismus und Kapitalismus. Er zeigt, wie das Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft vom Neo-Liberalismus heutiger Sicht abweicht, die aber keineswegs der früheren Sicht entspricht, und erkennt in der Solidarität den wesentlichen Knappheitsfaktor, der – trotz unbestrittener Effizienzvorteile – eine be­rechtigte Kapitalismuskritik begründet, weshalb er eine vertiefte Diskussion im Sinne einer – man möchte sagen – polit-theologischen Ökonomie fordert.
2) Greift die Kritik der Kirchen an der marktwirtschaftlichen Ordnung zu kurz oder zu weit? Welche Bedeutung hat das Ordnungsdenken in der Wirtschaft und in den Kirchen? Welche Kompatibilitäten bestehen und welche Inkonsistenzen gibt es in ihrer »Governance«?
Vier Aufsätze widmen sich diesem Thema. Der Publizist Gerhard Schwarz greift die Frage auf, ob der Markt unmenschlich sei, und verweist darauf, dass institutionell und im Hinblick auf das Menschenbild mehr Gemeinsames als Trennendes existiert. Dabei zeigt er, dass viele Kritikpunkte an der marktwirtschaftlichen Ordnung ursächlich mit politischem Versagen verknüpft sind. Nicht nur Staat und Kirche seien getrennte Institutionen, sondern das Reich Gottes herrsche eben nicht auf Erden, so dass die reale Welt unbefriedigend bleiben müsse. Der Schweizer Nationalrat Gerhard Pfister fragt, ob die Wirtschaft mehr staatlicher Ordnung bedürfe, und weist auf die Gefahr hin, dass individuelle Fehlleistungen oft zu kollektiven Regulierungen führen, die dann nicht nur alle bestrafen, sondern auch die Quellen des Wohlstands verschütten. Die Industriellen Rudolf Wehrli, Kai Rolker und Joachim Krüger gehen der Frage nach, ob die Globalisierung von Unternehmen genutzt werde, um ethische Standards nach unten zu treiben. Dabei sehen sie, dass die gesellschaftlichen Ansprüche an eine unternehmerische Ethik grundsätzlich wachsen und durch die Öffentlichkeit ein Korrektiv besteht, kurzfristige Vorteile nicht auszunutzen, weil Imageschäden langfristige ökonomische Verwerfungen im Unternehmen bewirken können. Die Hochschullehrer Christian Frey und Christoph Schaltegger fragen schließlich, ob in der Schweiz die Reichen immer reicher werden, und analysieren diese Frage vor dem Hintergrund von vier normativen Ge-rechtigkeitspostulaten: Leistungsgerechtigkeit im Arbeitsmarkt, Chancengleichheit in der Bildung, Bedarfsgerechtigkeit durch so­ziale Sicherung und Finanzierungsgerechtigkeit durch fiskalischen Föderalismus. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Institutionen einen angemessenen Ausgleich leisten und damit kirchliche Kritik oft fehlgeleitet sei.
3) Gibt es Konkurrenz und Antipoden zum kirchlichen Denken? Welche Bedeutung hat Rivalität aus institutioneller Sicht im kirchlichen Kontext?
In fünf Beiträgen wird das Thema durchdrungen. Der Hochschullehrer Markus Vogt fragt, ob Konkurrenz ein Antipode sei zu Barmherzigkeit und Kooperation, und sieht das agonale Evolu-tionsprinzip, das sich vielfältig in der Bibel wiederfindet, als we­sentliche Grundlage menschlicher Existenz, aber auch die daraus erwachsene Moral, die Auswüchse einzuhegen. Gerade eine Werterückbindung der Wirtschaft, die staatliche Institutionen durchzusetzen haben, aber auch eine Orientierung am Schwachen und die Subsidiarität als gesellschaftliche Maximen seien daher wich-tige Korrektive ansonsten entgrenzter Konkurrenz. Die Ökonomen Matthias Störring, Nils Goldschmid und Julian Dörr thematisieren die Bedeutung des Eigentums und sehen dessen Janusköpfigkeit: Freiheitsgarant, aber auch Grundlage von Ungleichheit. Die Ordnung des Privateigentums muss für sie aus Sicht der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen akzeptiert sein, weil deren Er­schütterung historisch stets mit der Zerstörung des Gemeinsinns einherging. Der Hochschullehrer Stephan Wirz diskutiert die Be­deutung von Genügsamkeit als Gegensatz zur modernen Konsumkultur und stellt die Mündigkeit des Bürgers – die Freiheit des Christenmenschen – in den Vordergrund, weshalb Kirchen nicht ständig nach staatlicher Intervention rufen sollten. Der Sozialwissenschaftler Arnd Küppers betrachtet das Spannungsverhältnis aus Staatsskepsis und Wohlfahrtsstaat aus kirchlicher Sicht im Kontext der historischen Linien des klassischen und des rationalistischen Liberalismus, um damit die Gegensätzlichkeit von Etatismus und katholischem Subsidiaritätsprinzip herauszuarbeiten. (Ordo-)Li­be­ralismus und Katholizismus eint die Forderung, staatliche Macht zu beschränken, aber ihr Zugang ist unterschiedlich. Der Hochschullehrer Georg Rich wirft schließlich die Frage auf, inwieweit Globalisierung wesentliche christliche Werte, insbesondere die der individuellen Partizipation und der staatlichen Autorität, tangiere. Er kommt zu dem Schluss, dass die Bedenken gegen die Globalisierung seitens der Kirchen meist überzeichnet seien, sieht aber auch deutliche Gerechtigkeitslücken bei der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne.
In dem gleichermaßen klar gegliederten sowie breit und tief aufgestellten Werk wird die babylonische Sprachverwirrung um die Begriffe Soziale Marktwirtschaft, Kapitalismus, Neo-Liberalismus usw. zwar nicht definitorisch, aber doch inhaltlich aufgelöst. Nach dem Lesen des Buchs – und das ist der Grund, es zur »Pflichtlektüre« zu erklären – gewinnt man den Eindruck, dass die vielen Ähnlichkeiten zwischen christlicher und marktwirtschaftlicher Lehre, vor allem beim Menschenbild und der Rolle des Sozialen, im kirchlichen Disput um ökonomische Gerechtigkeitsfragen untergehen; Letztere haben meist ihre Ursache im Ordnungs-versagen des Staats und sind nicht im Wettbewerbsprinzip be­gründet.