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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1307–1309

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Werren, Melanie

Titel/Untertitel:

Würde und Demenz. Grundlegung einer Pflegeethik.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2019. 244 S. = Ethik und Gesellschaft, 6. Kart. EUR 46,00. ISBN 978-3-8487-5546-2.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Demenz stellt eine Herausforderung für Konzeptionen der Menschenwürde dar. Das wird sofort ersichtlich, wenn die Menschenwürde an Fähigkeiten oder Eigenschaften festgemacht wird, welche durch das Fortschreiten einer dementiellen Erkrankung ver-lorengehen. Die als Promotionsschrift an der Universität Bern an­genommene Untersuchung von Melanie Werren widmet sich in diesem Problemkontext der Frage nach den Begründungsstrategien von Menschenwürde. Ziel ist eine pflegeethische Grundlegung der Würdekategorie, die sich für Menschen mit Demenz als angemessen erweist. Es entspricht dabei der Profession W.s, zwischen pflegeethischen und theologischen bzw. philosophischen Dis­kursen, zwischen Pflegeethik und Medizinethik zu vermitteln. Sie tritt deshalb auch dafür ein, dass die Wahrnehmung und das Ethos der Pflegenden sowohl in gesellschaftlichen Diskursen über Demenz als auch in der Demenzethik selbst gebührende Berücksichtigung finden.
Aufschlussreich sind die von ihr skizzierten Problemzusammenhänge (Kapitel 2): Der in der philosophischen Diskussion nicht selten als »Leerformel« kritisierte Begriff der Menschenwürde er­scheint in der Literatur der Pflegeethik vielfach tatsächlich in vager Unbestimmtheit. Nicht selten wird er instrumentalisiert, mit erstrebenswerten Zuständen verbunden und weitreichenden De­duktionen zugrunde gelegt. Als ebenso problematisch erweist sich eine medizinethische Interpretation des Würdebegriffs mithilfe des Konzepts der Autonomie, verstanden im Sinne einer informierten Zustimmung. Mit dem Verlust einer so verstandenen Autonomie drohen Menschen aus dem Schutzkonzept der Würde herauszufallen. In diesem Zusammenhang diskutiert W. den Adaptionsversuch, dementiell erkrankten Menschen eine »Autonomie des Augenblicks« zuzusprechen.
Das für sie entscheidende Grundproblem verdeutlicht sich W. mithilfe der strikten Unterscheidung zwischen Menschenwürde als inhärenter Wesenswürde und Würde als kontingenter Würde. Erstere kommt jedem Menschen unverlierbar zu, Letztere ist von einem Verhalten, von Eigenschaften oder Fähigkeiten abhängig und deshalb verlierbar. An dieser Stelle folgt W. der philosophischen Position von P. Schaber und dem Hauptstrang theologischer Ethik, um sich schnell (m. E. zu schnell) auf eine Alternative festzulegen: Allein das Konzept einer inhärenten und absoluten We­senswürde tauge als Schutzkonzept und insofern als Grundkonzept einer Ethik der Demenz.
Die folgenden beiden Hauptteile (Kapitel 3 u. 4) entsprechen einer klaren Trennung der Begründungs- und Gestaltungsebene von Würde und antworten damit bereits auf die in Pflegeethiken konstatierte Vermischung. W. verbindet damit die Strategie, den als zureichende Begründungsstrategien abgewiesenen Konzeptionen von bedingter bzw. kontingenter Würde doch konstruktive Hinweise für die Gestaltungs- und Konkretionsfrage abzugewinnen.
Unter den Begründungsstrategien unbedingter Würde werden zunächst transzendenzbezogene, d. h. theologische Konzeptionen dargestellt: die alttestamentliche Vorstellung der Gottebenbildlichkeit, deren eschatologische Neukonstitution im Sinne der Rechtfertigung des Sünders, sodann evangelisch-theologische Er­weiterungen wie der Rekurs auf das Bilderverbot oder auf ein relationales Personverständnis. Die transzendentale Konzeption Kants leiste zwar eine starke Begründung der Menschenwürde, die Un­terordnung des homo phaenomenon unter den homo noumenon transportiere jedoch ein fragwürdiges Menschenverständnis, insofern sie die Leiblichkeit samt deren Defizienzerscheinungen nicht berücksichtigen könne. Weiterführende Konzeptionen, welche den Würde- bzw. Personbegriff an den Phänomenbereich des Leiblichen zurückbinden, werden deshalb weitgehend zustimmend aufgenommen.
Die Begründungsstrategien bedingter Würde rekurrieren auf würdeverleihende Personeigenschaften oder -fähigkeiten (Selbstbestimmung, Selbstachtung, reflexives Verhältnis zum Leben, Handlungsfähigkeit etc.), führen aber eine problematische Graduierung mit sich. Im Kontext der Demenz möchte W. aber an einem nichtgraduierbaren Begriff festhalten. Die philosophischen Versuche, auch auf der Grundlage eines graduierbaren Personbegriffs an Menschenwürde als unbedingter Schutzwürdigkeit festzuhalten, werden von ihr abschlägig beschieden. Das gilt dann auch für Versuche, die Würde an Anerkennungsbeziehungen bzw. an der sozialen Realität geschuldeter Anerkennung festzumachen.
Auf der Gestaltungsebene der Würde (Kapitel 4) werden den zuvor kritisierten Strategien bedingter Würde dann handlungsleitende Prinzipien und Konkretionen für die Pflege abgewonnen: die Anerkennung der Verletzlichkeit und Endlichkeit, der Schutz vor Depersonalisierung, das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (konkret: das Recht auf Früherfassung der Demenz und auf demenzsensible Schmerzerfassung), die Achtung der verbliebenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten (konkret: abgestufte Beistandschaft), die Fokussierung der Pflege auf die Förderung emot ional positiver Situationen bzw. auf (nonverbale) Kommunika-tion. Zu den professionsethischen Konsequenzen gehört es, das Pflegepersonal zu einer narrativen und reflexiven Verarbeitung seiner ethischen Intuitionen und Wahrnehmungen zu befähigen.
Die Untersuchung deckt ein breites Problemfeld des Menschenwürde-Diskurses ab und setzt es dem »Härte- und Testfall« der Demenz aus. Das Interesse an klaren Unterscheidungen schon in der Terminologie von Würde scheint für die Pflegeethik angebracht. Die pflegeethischen Konkretionen erhalten auf diese Weise eine transparente Verankerung. Die referierten Positionen sind in der Regel kurz und bündig zusammengefasst. Wer im Bereich der Pflegeethik von Würde spricht, ist gut beraten, die vorgelegte Un­tersuchung zur Kenntnis zu nehmen.
Indirekt könnte ihre prononcierte Zuspitzung auf die Begründung einer inhärenten Wesenswürde eine Diskussion anstoßen, die in der philosophischen Ethik seit Längerem geführt wird, in theologischer Ethik bisher aber kaum Berücksichtigung gefunden hat. Die Grundfrage besteht schon darin, ob die Begründungsfrage der Menschenwürde und die Extensionsfrage der Menschenwürde, wem Menschenwürde zukomme, so in eins gesetzt werden können. W. verlangt in Übereinstimmung mit vielen theologischen Konzeptionen, dass der Begründungs- und Intensionsvorschlag bereits die Extensionsfrage beantwortet – und zwar im Sinne einer Koextension von »Mensch« und »Person« und einer nichtgraduierbaren Würde. Dass damit nur Konzeptionen einer inhärenten We­senswürde – und damit die meisten theologischen Konzeptionen – auf dem Spielfeld der Gründe zurückbleiben, leuchtet ein. In der philosophischen Diskussion besteht diese komfortable Situation des Rekurses auf eine inhärente Wesenswürde so nicht mehr. Das führt vermehrt zu Konzeptionen, die auf der Ebene der Be­gründung und der Intension mit einer kontingent-abhängigen Würde rechnen, zugleich aber auf der Ebene der Extension für jeden Men schen eine unbedingte Schutzwürdigkeit bzw. Achtung einzu-fordern versuchen.
Die Beachtung der kontingenten Leiblichkeit könnte es auch für theologische Ethik nahelegen, sich mit solchen Versuchen konstruktiv auseinanderzusetzen.