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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1278–1280

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wallmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt. Zum Umgang der evangelischen Kirche mit ihrer Geschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 311 S. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-374-06000-9.

Rezensent:

Konrad Hammann

Im Oktober 1983 hielt Johannes Wallmann auf einer Tagung zum Lutherjubiläum jenes Jahres im Haus des »American Jewish Comittee« in New York den Vortrag »The Reception of Lutherʼs Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19th Century«. Der seinerzeit ohne Wissen des Vf.s in »Lutheran Quarterly« in Englisch publizierte Text erwies sich bald als Pilotstudie zur Wirkungsgeschichte von Luthers Judenschriften. Daher ist es auch unter forschungsgeschichtlichen Aspekten zu begrüßen, dass W. die deutsche Fassung dieses Vortrags von 1983 »Die Rezeption von Luthers Judenschriften von der Reformation bis zum Ende des 19. Jahrhunderts« erstmals in seinem neuen Buch präsentiert (121–167).
Obwohl die Forschung seit 1983 in manchen Einzelheiten zu präziseren oder auch gelegentlich zu anderen Erkenntnissen ge­langt ist, als W. sie damals formuliert hat, liegt die Bedeutung seines Textes in der Explikation der zentralen These, dass es keine direkte historische Verbindungslinie zwischen den antijüdischen Schriften des späten Luther und dem eliminatorischen Antisemitismus des ausgehenden 19. und 20. Jh.s gibt. Diese Einsicht hat sich weithin durchgesetzt; nur einzelne, allerdings mit den historischen Sachverhalten nicht hinreichend vertraute und nicht selten von ideologischen Vorurteilen in die Irre geleitete Diskussionsteilnehmer behaupten anderes.
In weiteren Aufsätzen des vorliegenden Bandes variiert, untermauert und ergänzt W. seine gut begründete Auffassung, dass zumal Luthers späte Judenschriften im deutschen Protestantismus bis in das 20. Jh. hinein keine nennenswerte Beachtung fanden. Schon die führenden Vertreter des Pietismus maßen dezidiert dem frühen Votum Luthers zu den Juden von 1523 normativen Rang bei. Philipp Jakob Spener trat – ursprünglich im Kontext der chiliastisch bestimmten »Hoffnung besserer Zeiten« – für das religiöse Eigenrecht der Juden ein. W. zeigt gegen Martin Schmidts Behauptung, die Judenmission sei das Proprium der Haltung des Pietismus zum Judentum gewesen, dass tatsächlich von Gottfried Arnold bis hin zu Friedrich Schleiermacher die Tradition Speners, mithin die Anerkennung des eigenen Gottesdienstrechts der Ju­den, wirksam blieb (169–198). In einer Skizze zu dem angeblich von Luther eingerichteten Judensonntag verstärkt W. den von Irene Mildenberger erbrachten Nachweis, dass die evangelische Chris­tenheit den 10. Sonntag nach Trinitatis über Jahrhunderte hin nicht als »Judensonntag«, sondern als einen die Christen selbst zur Buße rufenden Gedenktag der Tempelzerstörung begangen hat. Er macht darüber hinaus auf Luthers Predigt zu Lk 19,41–48 (1525) und deren Druckfassung aufmerksam, die es nahelegt, zwischen dem lange Zeit Empathie für die Juden aufbringenden und dem die Juden rigoros bekämpfenden späten Luther zu unterscheiden (199–210).
Eine Studie zu Walter Grundmanns Eisenacher »Entjudungsinstitut« nutzt W. dazu, seine frühere These zurückzunehmen, die Judenfeindschaft in der evangelischen Kirche zu Beginn des Dritten Reiches gehe wesentlich auf Adolf Stoecker zurück. Er sieht Barbara Liedtkes Aufweis, Houston Stewart Chamberlain habe nicht nur die »Deutschen Christen«, sondern partiell auch einzelne Theologen der Bekennenden Kirche beeinflusst, als gelungen an. Auch das »Entjudungsinstitut« Grundmanns sei quasi ein »Vermächtnis Chamberlains« (226), nicht etwa Luthers, wie Peter von der Osten- Sacken meinte. W. zeigt, dass die Publikationen des Eisenacher Instituts über die Thüringische Landeskirche hinaus kaum rezipiert wurden, und tritt einmal mehr – hier gegenüber Susannah Heschel – dafür ein, die Unterschiede »zwischen dem christlichen Antijudaismus und dem modernen rassistischen Antisemitismus« sorgfältig zu beachten (253). Anknüpfend an eine lange übersehene These des israelischen Historikers Uriel Tal führt W. sodann noch einige lutherische Theologen vor, die während der Weimarer Ära die deutsche völkische Bewegung und den Zionismus gleichsetzten. In diesem Zusammenhang geht er auch auf die differenzierte Haltung ein, die der deutsche Protestantismus vor dem Ersten Weltkrieg im Hinblick auf das Judentum einnahm (257–309).
Mit dem umfangreichen Aufsatz über die »Evangelische Ge­meinde Theresienstadt«, der dieses Buch eröffnet, erinnert W. an ein bewegendes Kapitel der Geschichte und des Geschickes der Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich. Auf der Grundlage bereits veröffentlichter Augenzeugenberichte, teilweise auch erstmals ausgewerteter archivalischer Quellen vermag er ein eindrucksvolles Bild von der Entstehung und den Gottesdiensten der von dem Hamburger Oberlandesgerichtsrat Dr. Arthur Goldschmidt 1942 in Theresienstadt gegründeten und geleiteten evan gelischen Gemeinde zu zeichnen. Dabei berücksichtigt er auch den innergemeindlichen Konflikt, den das Ansinnen des Berliner Rechtsanwaltes Dr. Georg Hamburger, sich an den Predigten und den geistlichen Leitungsaufgaben in der Gemeinde zu beteiligen, auslöste. Hierzu wie auch zu anderen Konstellationen gibt W. aus seiner umfassenden Kenntnis der historischen, personengeschichtlichen und kirchengeschichtlichen Hintergründe wertvolle Verständnishilfen. Seine mehrfach ausgesprochene, im Untertitel des Buches bereits angedeutete Klage, die gegenwärtige Evangelische Kirche in Deutschland habe »Theresienstadt und die vielen evangelischen Christen jüdischer Herkunft der Vergessenheit« überlassen (108), scheint freilich etwas überzogen zu sein. Indes spiegeln sich noch in dieser Klage wie auch in den nicht gerade wenigen historischen Klarstellungen W.s die Empathie und das daraus erwachsene persönliche Engagement eines Autors, der sich durch seine eigene Lebensgeschichte zutiefst mit den von ihm nunmehr erinnerten Leidenswegen von Juden und Christen jüdischer Herkunft verbunden weiß (17–20).