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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1236–1239

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Fukuyama, Francis

Titel/Untertitel:

Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Aus d. amerik. Engl. übers. v. B. Rullkötter.

Verlag:

Hamburg: Hoffmann und Campe 2019. 236 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-455-00528-8.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Francis Fukuyama, der mit seiner missverstandenen These vom »end of history« – es ging ihm um das Ziel, nicht um den Abschluss der Geschichte – Furore gemacht hat, legt hier einen der bislang profundesten Beiträge zur Debatte um die Probleme der Identität und Identitätspolitik vor. Seine Ausführungen sind historisch fundiert und global orientiert, thematisieren also nicht nur die Lage in den USA, sondern die meisten aktuellen Problemfelder der internationalen Politik.
Auf interessante Weise belegt das Buch dabei selbst, worum es F. geht. Der Untertitel der deutschen Übersetzung verschiebt die Ak­zente gegenüber dem Original in folgenreicher Weise. Dort nennt F. als seine Themen die »Forderung nach Würde« (also etwas, was man haben will, weil man es nicht hat, und nicht um etwas, was man verloren hat und wieder haben will) und »die Politik der Ressentiments« (also die Politik der moralischen Erpressung der Privilegierten durch die Nichtprivilegierten, deren Logik Nietzsche auf glänzende Weise analysiert hat). Damit aber verändert sich der Charakter des ganzen Buches.
Der deutsche Untertitel suggeriert, wenn man nur jedem Einzelnen und jeder Gruppe ihre Würde zugestehen würde, wäre »un­sere Demokratie« nicht in Gefahr. Da­mit wird nicht nur verwischt, wie unterschiedlich die Formen der Demokratie in den USA, in Europa und in anderen Teilen der Welt sind, die F. beschreibt. Damit wird vor allem nahegelegt, der Kern des Übels läge bei denen, die anderen die erwünschte Anerkennung versagen, und nicht bei denen, die sie für immer neue Gruppen und Grüppchen fordern. Doch das ist das Gegenteil der These, die F. in seiner kritischen Analyse der politischen Situation der Gegenwart entwickelt. Detailliert und mit historischer Tiefenschärfe arbeitet er die Fragwürdigkeit einer Identitätspolitik heraus, in der gesellschaftliche Gruppen, die durch äußerliche ethnische, sexuelle oder kulturelle Merkmale definiert sind, auf die An­erkennung ihrer Rechte und ihrer Besonderheiten durch alle anderen pochen, und dabei in Kauf nehmen, die Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens zu untergraben. Sie kennen nur ihre eigene Opferagenda und wollen alle anderen als Täter entlarven. Kompromisse, von denen eine De­mokratie lebt, werden damit unmöglich, Liberalismus, der auf die Berücksichtigung auch der Sichtweisen anderer drängt, wird zum S chimpfwort, das Diskursmodell der Demokratie, das durch De-liberation und Abwägung zwischen relevanten Ansichten einen pragmatischen Konsens sucht, wird zum verabscheuungswür-digen Mechanismus der Herrschaft der Mächtigen über die Mar-ginalisierten. Das Problem ist nicht, was hier einer Person oder Gruppe genommen wird, sondern die demokratiezerstörerische Maß-losigkeit, mit der Machtansprüche von immer kleinteiligeren Gruppen durchzusetzen versucht werden.
Dass F. den Leitbegriff »Würde« für seine Analysen wählt, ist be­merkenswert. Dieser gehört zentral zur europäischen Tradition und spielt im amerikanischen Verfassungsrecht nur eine untergeordnete Rolle. Dort meint man eher, alles Wesentliche durch den Rekurs auf »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« sagen zu können, da diese Begriffe, anders als der Würdegedanke, rechtlich präzis definiert werden können. In seinen Analysen stellt F. dagegen den Würdegedanken ins Zentrum, den er als »das innere Ge­fühl« versteht, »das nach Anerkennung drängt« (27). »Selbstachtung geht aus der Achtung durch andere hervor«, und weil jeder danach drängt, »schlägt das moderne Identitätsgefühl rasch in Identitätspolitik um, die es Individuen ermöglicht, die öffentliche B estätigung ihres Stellenwerts zu verlangen« (27). Entsprechend schlägt F. in seinen historischen Diagnosen den Bogen von der antiken Seelenlehre über die Französische Revolution bis zu Hegel, um zu zeigen, dass ein »liberal-demokratisches, auf individuellen Rechten beruhendes System […] die Idee der gleichwertigen Würde gesetzlich nieder[legt], indem es die Bürger als moralisch Handelnde anerkennt, die fähig sind, sich an ihrer eigenen Regierung zu beteiligen« (59). Und er versucht in seinen zeitdiagnostischen Analysen aufzuweisen, dass die zentralen Konflikte unserer Zeit alle als »Spielarten der Identitätspolitik angesehen werden« (95) können. Das gilt für Nationalismus und Islamismus ebenso wie für die »Ideologie des Multikultarismus« (137) oder die »von der Linken praktizierte[n] Identitätspolitik [der] politischen Korrektheit« an den Universitäten und in den Medien (144 ff.).
Die Analysen sind treffend und weithin überzeugend. Allerdings operiert F.s Verständnis der Würde als »inneres Gefühl«, das auf Ausdruck und Anerkennung drängt, mit einer Entgegensetzung von innen und außen, die sich eher der Romantik des 19. Jh.s und Charles Taylors Konzept des expressiven Individualismus verdankt als Luther, auf den er als Wurzel verweist (44 f.70 ff.). Es ist keineswegs »unbestreitbar, dass die Unterscheidung zwischen In­nerem und Äußerem und die höhere Bewertung des Ersteren maßgeblich mit Luther begannen« (46). Man muss vielmehr entschieden bestreiten, dass Luther so gedacht oder argumentiert hätte. Seine Unterscheidung zwischen dem geistlichen und leiblichen Menschen ist keine Entgegensetzung von »innerem Selbst« und »äußerem sozialem Wesen« (44), sondern ein Perspektivwechsel zwischen dem Menschen coram deo und dem Menschen coram mundo. Vor Gott ist der Mensch aber ebenso inneres Selbst und soziales Wesen wie vor der Welt. Seine Gott verdankte Würde ist dementsprechend kein inneres Gefühl, das er anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen hätte, sondern umfasst seine öffentliche Seite nicht weniger als seine private, seinen Leib nicht weniger als sein Selbst. Die Würde des Menschen hängt theologisch nicht daran, dass er ein ›inneres Selbst‹ hat, sondern daran, dass er Mensch vor Gott ist. F. operiert hier durchgängig mit Gegensätzen (innen/ außen, individueller Glaube/soziale Strukturen, inneres Selbst/ äußere Institution), die sich eher Max Weber und dem Katholiken Charles Taylor verdanken als einer kritischen Auseinandersetzung mit den Texten Luthers.
F. unterschlägt nicht die Probleme, die sich ergeben, wenn man das Identitätskonzept von Individuen auf Gruppen oder Nationen überträgt. Es ist notorisch schwierig, Gruppenidentitäten zu definieren, die nicht in Spannung oder gar im Widerspruch zur Freiheit der Individuen stehen, sich selbst so oder anders zu bestimmen. Warum sollte man sich mit den identitätspolitischen An-liegen von Frauen identifizieren, nur weil man anhand äußerer Merkmale dieser Gruppe zugeordnet wird, aber zugleich mitgeteilt bekommt, dass Genderzugehörigkeit ein soziales Konstrukt sei? »Die Tatsache, dass ich auf diese oder jene Weise geboren wurde, bedeutet nicht, dass ich auf diese oder jene Weise denken muss. […] Gesellschaften haben die Pflicht, Minderheiten zu schützen, aber sie müssen auch gemeinsame Ziele mit Hilfe von Abwägung und Konsens erreichen. Dieser Prozess wird bedroht, wenn sich Linke und Rechte immer stärker auf den Schutz immer enger gefasster Gruppenidentitäten konzentrieren.« (149 f.) Auch wenn F. die Konsequenz nicht ausdrücklich zieht, ist klar, dass diese Politik nur in einer radikalen Individualisierung enden kann, in der jeder für seine Interessen streitet und keiner mehr die Gemeinsamkeiten mit anderen sieht. Was Hobbes einst am Anfang des gesellschaftsbild enden Prozesses gesehen hatte – den Kampf aller gegen alle –, droht jetzt das Ergebnis der identitätspolitischen Atomisierung von Interessen, Forderungen und Ansprüchen zu werden.
Damit wird das Zusammenleben der Menschen auf allen Ebenen gefährdet. Deshalb betont F. gegenüber den Verfechtern eines globalen Kosmopolitismus, dass es nach wie vor unverzichtbar ist, mit Nationalstaaten zu rechnen, »eine internationale Ordnung auf der Basis von Nationalstaaten zu errichten und eine angemessene nationale Identität innerhalb jener Staaten zu finden« (166). Auf der Ebene der Staatszugehörigkeit ist ein »inklusives Gefühl der nationalen Identität […] wesentlich, wenn man eine erfolgreiche, moderne politische Ordnung aufrechterhalten will« (156). Er führt dafür sechs Gründe an: physische Sicherheit, die Qualität der Regierung, den Beitrag der Identität zur Wirtschaftsentwicklung, die Ermöglichung einer breiten Vertrauensbasis, die Pflege starker sozialer Sicherheitsnetze und die Ermöglichung liberaler Demokratien (156–158). Allerdings warnt er davor, diese Identität ethnisch zu definieren und er fordert die europäischen Länder auf, sie müssten » von der Auffassung nationaler Identität auf der Grundlage der Volkszugehörigkeit abrücken« (198). Worin die geforderte »pan-europäische Identität« (199) bestehen soll, vermag er allerdings auch nicht zu sagen.
Bei aller Kritik an den identitätspolitischen Projekten und ihren mannigfachen Gefahren und Einseitigkeiten betont er aber zwei Punkte. Zum einen können wir aus dem Identitätsdiskurs nicht einfach austreten. »Die Lösung liegt nicht darin, die Idee der Identität aufzugeben, da sie in unserer Zeit einen wesentlichen Teil des Bildes ausmacht, das die Menschen von sich selbst und ihrer Gesellschaft haben.« (150) Wir müssen vielmehr versuchen, unsere jeweiligen Identitäten in umfassendere Identitäten aufzuheben, also zum Beispiel im Fall der Nationalstaaten »größere und einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, welche die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen« (150). Doch das ist keine wirkliche Lösung der Probleme, sondern verschiebt sie nur von einer Ebene auf eine andere. Die Einbettung i n umfassendere Identitätszusammenhänge ist gegenläufig zur Atomisierungstendenz der Identitätspolitik, aber sie ist nicht in jedem Fall ein Mittel, die identitätspolitische Erosion gesellschaftlicher Gemeinsamkeiten zu stoppen.
Zum anderen, und das dürfte weiterführen, sollte man der Komplexität und Dynamik der Identitätsfrage besser Rechnung tragen. Wir müssen »im Gedächtnis behalten, dass die Identitäten tief in unserem Inneren weder fixiert sind noch uns zwangsläufig durch den Zufall der Geburt beschert werden« (213). Wir alle haben nicht nur eine Identität, sondern verschiedene aufgrund unserer verschiedenen Zugehörigkeiten. Wir alle stehen dementsprechend vor der Aufgabe zu entscheiden, welcher Identität wir in bestimmten Situationen die Priorität einräumen und welche Identitäten wir hintanstellen. Nicht immer muss die Genderfrage, kulturelle Herkunft oder Staatszugehörigkeit ausschlaggebend sein. Wir sind nicht gefangen in unseren Identitäten, sondern wir können und müssen uns zu ihnen verhalten. Das ist eine altbekannte Tatsache. In der christlichen Kirche soll es nach Paulus bekanntlich nicht zählen, ob man Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, Mann oder Frau ist, weil es nur darum geht, dass alle zusammen eins sind in Christus Jesus (Gal 3,28). Damit wird nicht bestritten, dass es Juden, Griechen, Sklaven, Freie, Männer und Frauen gibt. Aber man muss bedenken, wo es worauf ankommt. Und man muss sich entscheiden, wie und als was man in bestimmten Zusammenhängen verstanden werden will. Wer in der Identitätsdebatte weiterkommen will, muss das entschiedener beachten: Unsere multiplen Identitäten fordern uns zur Entscheidung heraus, welche wir für uns in welchen Zusammenhängen aus welchen Gründen für wichtig halten. Wo es um die Einheit in Christus geht, setzen Unterscheidungen wie die zwischen »Christinnen« und »Christen« die falschen Akzente. Auch das kann man bei F. lernen, wenn man seine Überlegungen weiterzieht.