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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1203–1205

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Brinkmann, Frank Thomas

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Ein Guide.

Verlag:

Tübingen: Francke Narr Attempto Verlag 2019. 367 S. = UTB 5141. Kart. EUR 26,99. ISBN 978-3-8252-5141-3.

Rezensent:

Bernhard Lauxmann

»Unkonventionell« – ein allzu schwaches Wort für dieses Buch. Sein Autor, Frank Thomas Brinkmann, ist Professor für Praktische Theologie in Gießen. Hervorgetreten ist er neben religionspädagogischen und homiletischen Studien vor allem durch mediensensible Beiträge im Schnittfeld von Theologie und Popkultur. B. ist ein erfahrener Lehrbuchautor: 2013 erschien B.s Lern- und Arbeitsbuch zur Religionspädagogik (Stuttgart: Kohlhammer, 2013). Sein PT-Guide, den er nun nachlegt, muss sich mit folgendem Konkurrenzwerk messen: K. Fechtner/J. Hermelink/M. Kumlehn/U. Wagner-Rau: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch, Stuttgart: Kohlhammer 2017. – Was leistet B.s Guide (367 Seiten für EUR 26,99) im Gegenüber zur Konkurrenz »des Kollektivs« (289 Seiten für EUR 30,00)?
Der Unterschied zwischen den zwei Werken liegt nicht so sehr in der sachlichen Grundausrichtung: Wie »das Kollektiv« meidet auch B. die »Kommunikation des Evangeliums« als Leitformel und Strukturprinzip der Praktischen Theologie (gegen C. Grethlein). Beide Bücher verhandeln Praktische Theologie als theologisch fundierte Theorie christlich-religiöser Praxis, die sich nicht auf kirchlich-institutionelle Praxis beschränken lässt, sondern auch öffentlich-kulturelle sowie individuell-private Praxis zu berücksichtigen hat.
»Das Kollektiv« legte ein Lehrbuch im eigentlichen Wortsinn vor, das nach einem kurzen Querschnittsteil die elementaren Lern-inhalte – Disziplin für Disziplin abschreitend – plausibel aufrollt und so das Wichtigste in Kürze darlegt. Gerade solche Literatur, die schon vom Titel her (»Lehrbuch«) im Dienst traditionellen Wissenstransfers steht, ist B. suspekt. B. legt bewusst kein Lehrbuch vor, sondern einen Guide – einen Reiseführer, der Erkundungsgänge in die PT-Welt anleitet. (2013 wählte B. einen ähnlich ungewöhnlichen didaktischen Kniff für die Religionspädagogik: Das Buch war ein Baukasten-Lernsystem.) Anstatt Einzeldisziplinen und Elementarfragen kleinschrittig darzulegen, geht B. in drei Touren aufs Ganze und verhandelt Grundsätzliche(re)s. Denn: »[W]er […] reist, um allein die üblichen Binsenweisheiten zu rekapitulieren, hätte niemals reisen dürfen« (15).
Die erste Tour (25–89) klärt Begriffe und Voraussetzungen einer »missverständlichen Wissenschaftsdisziplin«. B. verhandelt das Theorie-Praxis-Problem (30–40), den Begriff »Theologie« (40–56) sowie die Begriffsbildung »Praktische Theologie« (56–67) und um­reißt zuletzt »[a]ll die Bücher, all die Worte, all die steilen Thesen«, also Klärungsversuche der einschlägigen Lehrbuchliteratur (67–89). Schade: Das Konkurrenzwerk »des Kollektivs« wird hier nicht be­handelt, erst später und da nur am Rande (231).
Die zweite Tour (91–200) widmet sich den »Entwicklungs-, Ge­staltungs- und Reflexionsgeschichte(n) christlicher Religionspraxis« (91). B. holt also weit aus: Der Bogen reicht von der von Trauerbewältigung geprägten Praxis der frühen Christen über die »Pas-toraltheologie der/für Superhirten« (199) bis hin zu modernen Skizzen der Praktischen Theologie. F. D. E. Schleiermacher (146–171) und E. Troeltsch (177–189) stehen hier im Fokus: Schleiermacher habe die gesamte Theologie als Praktische Theologie verstanden (»PT I«) und zugleich die Praktische Theologie als theologische Subdisziplin etabliert (»PT II«); Troeltsch habe eine »hochgescheite, als protestantische Kulturtheologie aufgestellte Theologie« (189) befördert.
Die dritte Tour (201–324) widmet sich »Tatbeständen, Impressionen und Zukunftsvisionen« (201). B. skizziert hier nicht »sein« oder »das« Verständnis der Praktischen Theologie, sondern plausibilisiert einzelne Parameter (Praxis, Theorie, Poiesis, Theologie und Attitüde), die je nach Gewichtung ein unterschiedliches Verständnis von Praktischer Theologie nahelegen. Dass B. selbst für eine Praktische Theologie plädiert, die sich dem Pluralitätsdiskurs, der Populärkultur, dem Programm der empirischen Theologie, Digitalisierungs- und Mediendebatten sowie religionsethnologischer Feldforschung verschreibt, verleugnet er nicht.
Neben diesen Touren sind zwei Exkurse hervorzuheben: Erstens, ein »Intermezzo« zur Predigt (232–243), in dem B. das Missverständnis, Predigt sei Rede, ausräumt. Die Predigt sei »keinesfalls de-ckungsgleich mit dem Trägermedium der Rede« (241). Predigt müsse vielmehr »als eine überschaubare Datenmenge konzipiert sein, die […] Gefühle garantiert« (243). Zweitens, ein »Intermezzo« über die »Welten der Anderen« (269–284): B. beobachtet für die Theologie eine »Kollision von Selbstanspruch und Fremdappell« (272): Die Theologie verstehe sich als Expertin für Lebensdeutung, stehe zugleich aber in Kritik, zu wenig vom Leben zu verstehen (272 f.). Er plädiert daher für eine milieusensible Theologie, die theologische Floskeln und »die schweren Geschütze der Tradition (z. B. Gott, Glaube, Kirche und Christentum)« (283) vermeide.
B.s Guide lässt Lernenden einen Blick auf Möglichkeiten abseits ausgetretener Pfade erahnen. Das sympathische Bemühen, Studierenden nicht das Wichtigste »vorzusetzen«, sondern sie mit Traditionen, Schulen und möglichen Denkwegen vertraut zu machen, wird durchgängig spürbar. B. motiviert Lernende, »pointiert eigene Zugänge zu wagen, vom Mainstream abzuweichen und eigene Überlegungswege anzustellen« (22). Der Fokus auf variable Parameter, durch deren Kombination neue praktisch-theologische Sys­ teme entstehen, ist erfrischend, bescheiden und – in einer Zeit, deren Idealtypus der Kurator bzw. die Kuratorin ist, der/die Vorfindliches stets neu zusammenstellt (vgl. A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin: Suhrkamp 2017, besonders 295–298) – up to date.
Fraglich bleibt, ob der Guide klar genug vor Abwegen warnt und die Pfade präzise genug beschildert. Die Gefahr, ins Dickicht der Vorurteile abzurutschen, bleibt bestehen – ein salopper Sprachstil, einzelne formale Schwächen und teils stark voraussetzungsreiche Passagen könnten Misstritte der Lernenden begünstigen.
Folgende Textstrukturelemente finden Verwendung: Zitate und Anekdoten am Kapitelbeginn als Motto; Aufzählungen und Petit-Passagen für bessere Übersicht; Kursivierungen und Fettungen zur Hervorhebung wichtiger Gedanken; illustrierende Zeichnungen sowie zusammenfassende Tabellen; ferner Lektüreent-deckungen (hist. Quellentexte und Titelseiten) als »Souvenirs« am Ende. Der Guide kommt ohne Marginalien, ohne Info-Boxen (z. B. mit Merksätzen oder Definitionen) sowie ohne Register aus. Hier sehe ich noch Luft nach oben.
Dass Satzteile teils aus dem Fließtext entnommen werden und als Überschriften fungieren, ist lästig – zumal die Praxis uneinheitlich ist. Lateinische Quellentexte bleiben leider häufiger unübersetzt – das ist in Anbetracht der Zielgruppe unglücklich; dass B. diesen Befund gar kommentiert (»[E]s lohnt sich durchaus, etwas lateinisch lesen zu können …« [127]), ist kaum hilfreich.
Den Stil nennt B. selbst »polarisierend« und verortet das Buch »zwischen Feuilleton-Plauderton und Thomas Mann’scher Satz-ungetüm-Tradition« (10 f.). Tatsächlich: Er spricht schon mal vom »von der Frühromantik touchierten Salonfreund Friedrich S.« (159), statt »Schleiermacher« zu sagen; moniert eine »pastoral choreographierte Hirtenpraxis für und an christlichen Schäfchen« (112) – anstatt vor pastoraltheologischer Engführung zu warnen; und widmet absatzstarke Anmerkungen randständigen Themen wie z. B. den »Blödfragen-Dilemmata« (56). Kurz gesagt: Der kecke Stil mag durchaus erfrischend sein, ist insgesamt aber doch zu salopp und verdeckt teils inhaltliche Pointen.
Wenngleich ich weiterhin mit dem traditioneller angelegten und grundsolide durchgeführten Konkurrenzwerk »des Kollektivs« arbeiten werde, ist B.s Guide doch gewiss eine gute Alterna-tive für Lehrende, die ihren Studierenden einen kultursensiblen Augenöffner bieten wollen, der grundlegendere Erkundungsgänge befördert. Für nonkonformistische Bildungsanstrengungen ist der Guide aufgrund seiner Stoßrichtung, den Studierenden Wege »out of the box« zu weisen, mithin sogar besser geeignet als die Konkurrenz. Die in der Praktischen Theologie verbreitete und nicht selten allzu enge Fokussierung auf Kirche, Gemeinde und Pfarrerschaft wird in B.s Guide zudem deutlicher korrigiert als andernorts.