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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1197–1200

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stock, Alex

Titel/Untertitel:

Poetische Dogmatik: Ekklesiologie. Bd. 2: Zeit.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016. 367 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-506-78537-4.

Rezensent:

Walter Sparn

Die poetisch-theologische Ekklesiologie geht hier vom Raum (Bd. 1: ThLZ 141 [2016], 256–258) zur »Zeit der Kirche« über. Das Vorwort (7–18) bestimmt die in dieser Formel liegenden Ansprüche. Zum einen verschränkt sie die zyklische Zeit des Kirchenjahres mit der linearen Zeit der Kirchengeschichte im »Mehrzeitenraum« Gottesdienst: Liturgie nimmt als ritualisiertes Gedächtnis die Historie in sich auf und synchronisiert die Alterität der Zeiten menschheitsgeschichtlich (11). Zum andern gehört zur »Zeit der Kirche« die Dialektik von äußerer (sozialer, öffentlicher) Zeit und innerer (vom Einzelnen erlebter) Zeit und deren Ziel in der ewigen Ruhe Gottes. In dieser Dialektik nimmt Alex Stock eine Spannung wahr, die er dann öfter anspricht; aber die »Zeit der Kirche« löse jene Zeitspannung auf, in die der heilsgeschichtliche Kairos die »gemächliche Zeit« bringe. Der apokalyptischen Ungeduld wird gesagt, dass Gott den Tag des Herrn als Gnadenzeit verzögert und also »die eine große Woge [sich] entspannt in das Auf und Ab eines weitergehenden Wellengangs« (13). Der Vf. arbeitet mit der – zugegebenermaßen der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Zeitansage gefährlichen – Annahme der »anhaltenden Parusieverzögerung« (14) und hält sich an die Kirche, ihre Liturgie und ihre Frömmigkeit, deren Geschichte und speziell ihrer dem Vaticanum II folgenden Reform.
Die »Spur der liturgischen Zeit« beginnt mit »A. Der Tag« (19–78), einer historisch, poetisch und bildlich gestützten Phänomenologie religiöser Praxis. Dazu gehören die Stundengebete Laudes, Vesper und Komplet, aber auch Gebete der Laienfrömmigkeit wie »Komm Herr Jesu …« (29 ff.). Wie Lieder von H. Oosterhuis werden evangelische, Luthers »Morgensegen« fortschreibende Lieder gewürdigt (35 ff.); sogar Hegels »realistische(r) Morgensegen«, das Journal, tritt auf. Für das Abendgebet wird weniger das »Gotteslob« (Nr. 91) herangezogen (die »herrschende Pastoral« ziele eher auf »gemeindliche Liturgisierung« als auf »spirituelle Autorisierung der gemeinen Gläubigen«, 66 f.) als Lieder von C. Becker (EG 474), P. Gerhardt (EG 477/GL 101), M. Claudius (EG 482/GL 93), der Konvertitin L. Hensel (EG 484/GL 14,6) und andern Vertretern romantisch-radikaler Subjektivierung der Religiosität. Die Nokturn wird mit einem Lied des »evangelischen Mystikers« G. Tersteegen (EG 480) erinnert (73 ff.).
Eingerahmt vom Kindermerkvers Th. Fliedners und von L. Uhlands »Schäfers Sonntagslied« (!), behandelt »B. Woche« (79–116) das wegen seiner Interferenz mit dem jüdischen Sabbat komplexe und brisante Zeitphänomen des Sonntags mit seinem eschatologischen Ruhe-Sinn. Die Bedeutung des Sabbats wird im Alten Testament, im antiken Judentum, auch in der kabbalistischen Sabbatmystik und im bürgerlichen Sabbatnachmittag gezeigt (88 ff.). Der Vf. stellt die »sabbatliche Herausforderung des Sonntags« und ihre apologetische, religionspolitische und theologische Bewältigung heraus: Thomas v. Aquin versteht ihn als kirchen- und gewohnheitsrechtliche Erfüllungsform des (naturrechtlichen) Sabbatgebotes. Der Vf. kontrastiert den Reformatoren, die den Sonntag von Gesetzlichkeit lösen, seine rigorose »Sabbatisierung« im Puritanismus und weist hin auf die Ambivalenz des staatlichen Sonntagsschutzes (100 ff.). Mit seiner Fassung der Neubestimmung als österlicher Herrentag (»achter Tag«) durch das Zweite Vaticanum ist der Vf. nicht ganz einig; auf jeden Fall sei der Vollzug des Herrenmahles konstitutiv, so dass dieses, wo kein Priester ist, auch von Laien geleitet werden kann (so gegen »klerobürokratische Bedenken«, 109). In der Messe stellt der Vf. auf die subjektive Aneignung eines konsistenten kulturellen Gedächtnisses und die Predigt als Austrag der dialektischen Spannung zwischen liturgischer und säkularer Zeit ab, für den zweiten Teil auf das rituelle Gedächtnis, in dem das textlich preisende Gedächtnis auf die Realpräsenz der erinnerten Person hingeführt wird (111 ff.).
Die kalendarischen Herren-, Marien- und Heiligenfeste wurden schon in der Christologie und der Gotteslehre behandelt, so dass für »C. Jahr« (117–196) das (wieder marianische) Neujahr, die Weihnachtszeit, deren Ökonomisierung eine Weihnachtsengel-Erfahrung W. Benjamins kontrastiert wird (128 ff.), der Aschermittwoch, der Marienmonat Mai und Allerseelen bleiben. Im Blick auf die Fastenzeit sei hervorgehoben die Kritik an K. Rahners Engführung des Ascheritus (»Todestheologie«, 137 f.) und die Interpretation der Verhüllung des Kreuzes an Judica mit M. Triegels Gemälde Deus absonditus von 2013, einer »irritierenden Bildstörung« der neueren Kirchensprache (144 f., farb. Abb.). Gelungen ist auch der Vergleich evangelischer Mailieder mit der katholischen »Maiandacht« (147 ff.); leider ist nicht erwähnt, dass es neben der marianisch-mystischen Lektüre des Hohenliedes auch eine künstlerisch sehr fruchtbare christusmystische Lektüre gab. Die historische und ökumenische Betrachtung des in Allerseelen, Ewigkeitssonntag und Volkstrauertag inszenierten Verhältnisses der Lebenden zu den Toten (157 ff.) gibt der Ablasskritik Luthers recht (und die Totensorge sei mit der Imagination eines Fegfeuers nicht notwendig verbunden), relativiert jedoch die Fixierung auf die fides finalis im Sterben (162 f. 181) und legt das Gewicht auf die »Solidargemeinschaft« der Lebenden und der Toten. Die aktuelle Allerseelenliturgie, die den österlichen Sinn des christlichen Todes markiert, die aber das Wort »Seele« und den Gerichtsgedanken vermeidet und die Beter weniger für die Verstorbenen als für sich selbst beten lässt, könne nicht das letzte Wort sein (189). Der Vf. schlägt selbst eine Totenliturgie vor, »eine im liturgischen Medium ausgearbeitete eschatologische Versuchsanordnung« (190 ff.196) – ein Höhepunkt des Buches!
Die letzten Kapitel thematisieren die lineare Zeit, zuerst die des einzelnen Menschenlebens »D. Leben« (197–286). Hier geht es um die Taufriten in Bezug auf die »Geburtlichkeit« des Menschen (H. Arendt) und auf seine Singularität als freies Kind Gottes (auch »Zugriffen der Mutter Kirche« gegenüber), um Krankensalbung und Beerdigung (218 ff.; ars moriendi, 228 ff.; Suizid und Hospiz, 237 ff.) und um die Trauung, mit der sich die Kirche in die Ehe »einmischt« (271 ff.). Der Vf. notiert die enorme dramaturgische Veränderung durch die familienkatechetische Umorientierung der Kindertaufe (204 ff.213 ff.). Er bezweifelt, ob die Verschiebung des alten Sterbesakraments auf Heilung bzw. die Zuwendung zu den Hinterbliebenen den aktuellen »eschatologischen Klimawandel« auffängt (243 ff.), und lobt die Glaubensfreude evangelischer Sterbelieder (251 ff.). Scharf kritisiert er die vermeintlich biblische Ehelehre des kanonischen Rechts (und seiner zölibatären Urheber) und den Trauritus, der den freien Konsens durch ein Gottesgesetz der Un­auflöslichkeit der Ehe und die formpflichtige Verschmelzung von Vertrag und Sakrament überlagere; anders die »Ehelandschaft« von Chr. und T. Brahe (283 ff.).
»E. Geschichte« nennt der Vf. das Leben der Menschheit – in der Wahrnehmungsperspektive der Kirche, die ja die Lebensgeschichte eines Kollektivsubjektes sei (287–325). Er beantwortet die »Lebensfrage« nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der Form, dass er Arbeitsweise und Modelle »kirchengeschichtlicher Zeitsichtung« erhebt. Dass auch hier die Liturgie das »Indikationsfeld« sei, leuchtet beim Gedächtnis der Heiligen ein (»Consortium«, 288 ff.), auch wenn man die hagiographische Begründung der Offenheit der Geschichte aus den Sprüngen und Emergenzen (»Wunder«) der Heiligengeschichte als »fortlebendem Christus«, 288 ff.) nicht teilen möchte. Zumal der Vf. selbst am stilbildenden Geschichtswerk des Eusebius (»Sukzession«, 295 ff.) das Dilemma zeigt, dass die Kontinuität der Geschichte des zur Weltherrschaft kommenden göttlichen Logos dann, wenn man keine apokalyptische Beschleunigung veranschlagt, eine noch offene Geschichte ist, deren Ereignisse in jene »Ausbreitungslogik« erst noch einzuzeichnen sind. »Epochen« (301 ff.) bezeichnen lediglich Geschichts modelle: »Weltzeit« (Vorgeschichte Christi), »Pilgerzeit« (Augustins Antagonismus der beiden Staaten), »Endzeit« (Vision Joachims und der radikalen Franziskaner), »Neuzeit« (die konfessionell entzweite Historiographie, die mit einer ökumenischen Kirchengeschichte zu Ende gehen könnte). Obwohl der Vf. die »profanhistorische«(!) Unterscheidung von Früher Neuzeit und Moderne nicht schätzt, charakterisiert er Letztere ebenfalls als eine neue Geschichte, deren Leitprinzip Freiheit und deren Erwartung der unaufhaltsame Fortschritt in eine von der Menschheit selbst in die Hand genommene Zukunft sei. Sie »tran szendiert« die vom Christentum religiös bestimmte Epoche: »In ihrer programmatischen Offenheit und systemimmanenten Be­schleunigung wird diese Moderne zur Endzeit ohne Ende« (310).
Angesichts dieser Charakteristik und der Hinweise auf »Weltrevolution« und »3. Reich« kann der Rezensent nicht verstehen, dass der Vf. im apokalyptischen Enthusiasmus (»Chiliasmus« fehlt) nur ein »Randphänomen« mit »Gewitterpotential« sehen kann. Er ist ein »Angriff auf die ›epochale Definitivität‹ der Kirche« (306), gewiss, aber dass christlich-apokalyptischer, zivilreligiöser und technokratisch-säkularer Chiliasmus koalieren können, zeigt das chiliastische Projekt der Moderne, der novus ordo saeclorum der USA, überdeutlich. Der Vf. stellt nur fest, dass gegen die Herausforderungen der Aufklärung die katholische Geschichtsschreibung im Gefolge des amtskirchlichen Antimodernismus »Staudämme zu errichten versucht«, die evangelische im Gefolge des Lutherschen Freiheitspathos und seiner philosophischen Realisierungen ein »neues narratives Kontinuum« zu bilden sucht und an eine »christliche Kanalisation der Moderne denkt« (310 f.). Er zeigt beides im Abschnitt »Historik« an H. Jedins »historischer Ekklesiologie« und G. Ebelings »Geschichte der Auslegung der Hl. Schrift« auf (312 ff.), dem er mit seiner eigenen Historik, z. B. mit einem heuristischen Kirchenbegriff, zuzustimmen scheint. Nützlich für die, »die einfach nur Christen sind und sein wollen, evangelisch, katholisch«, ist sie als »ein Medium der Freiheit eines Christenmenschen in seiner Kirche und vielleicht gegen sie« zu sein (317). Sie könnte einen soteriologischen und eschatologischen Horizont haben: Ihr »Eingedenken« (W. Benjamin) glaubt einen Jüngsten Tag (318). So geht der Vf. zum Paradoxon »F. Ewigkeit« über (318–327). Sein Ort ist die Liturgie; seine Theorie ist eine Vorübung für die mystische theologia experimentalis, seine Empirie ist die Entschleunigung unseres Lebens bis zum beseligenden »Augenblick der Entrückung aus der Zeit«, »des in den Lauf der Zeit von oben einschlagenden Blitzes der Ewigkeit« (323).
Diese Ekklesiologie der Zeit als »rhythmische Interferenz von Zeiten« (326) liest sich im Text und vielen klug ausgewählten Bildern gut; formale Mängel (u. a. bleiben zweimal Seitentitel im folgenden Kapitel stehen) stören nicht wirklich. Der Rezensent möchte aber fragen: Warum kommt die Musik, die Zeitkunst schlechthin, nicht vor, obwohl der Vf. die Liturgie als »Kunstwerk aus Texten, Musik, Gesten« (189) betrachtet und oft »Partitur« nennt? Und: Wird die kirchliche Liturgie nicht überbeansprucht, wenn sie in unsern Zeiten als Leitmedium die kirchliche Zeitsichtung nicht nur heuristisch öffnet, sondern auch normativ begrenzt? In seiner Kritik an amtskirchlichen Entscheidungen rekurriert der Vf. nicht selten auf den sensus fidelium …